»Was wollt Ihr damit sagen?«, fragte Ashe.
Der Patriarch sah den Herrn der Cymrer eingehend an. »Habt Ihr die Weberin gesehen, als Ihr im Reich der Rowans weiltet?«, fragte er schließlich.
»Nein«, antwortete Ashe. »Falls ich sie doch gesehen haben sollte, erinnere ich mich nicht mehr daran. Ich erinnere mich an sehr wenig aus dieser Zeit; ich war zu schwer verwundet. Meine einzige Erinnerung sind Teile von Gesichtern und verschwommene, schmerzerfüllte Träume.«
»Die Weberin ist eine der Verkörperungen des Elementes der Zeit«, sagte der Patriarch ernst.
»Diejenigen, welche die Sage von den Geschenken des Schöpfers kennen, zählen meist fünf davon auf, nämlich die weltlichen Elemente, doch es gibt noch andere, die außerhalb der Welt existieren. Eins davon ist das Element der Zeit, und Zeit in ihrer reinen Form manifestiert sich auf viele Arten. Die Weltenbäume, die Sagias, der Große Weiße Baum und die drei anderen, die an den Geburtsorten der Elemente wachsen, sind Manifestationen der Zeit. Und das ist auch die Weberin. Sie scheint eine Frau zu sein, doch man kann sich nicht an ihr Gesicht erinnern, wenn man sie gesehen hat, wie eingehend man es auch betrachtet hat. Sie sitzt vor einem gewaltigen Webstuhl, auf dem in farbigen Fäden und Mustern die Geschichte der Zeit gewebt wird – mit Kette und Schuss. Die Weberin ist die Manifestation der Zeit in der Geschichte«, fuhr er fort. »Sie mischt sich nicht in den Lauf der Dinge ein, sondern zeichnet sie nur für die Nachwelt auf. Sie webt einen faszinierenden Teppich mit ungeheuer verschlungenen, allesamt miteinander verbundenen Fäden. Alle Dinge und alle Wesen sind Fäden in diesem Gewebe; es sind ihre Beziehungen untereinander, die wir als Leben verstehen. Ohne die Verbindungen, welche die Fäden untereinander haben, gäbe es nur die Leere, die Abwesenheit von Leben. Und in diesen Verbindungen liegt Macht.
Diese Bande binden Seele an Seele, auf Erden und im Nachleben. Die in diesem Leben eingegangenen Verbindungen erlauben es den Seelen, im nächsten einander zu finden. Aus diesem Grund überdauert die Liebe das Leben. Doch auch anderes überdauert das Leben.
Manchmal sind die Bande der Feindschaft genauso stark wie die der Liebe. Die Seelen, die etwas vollenden müssen, das von Hass durchtränkt ist, können viele Dinge und viele Wirklichkeiten überwinden, wenn das Band zwischen ihnen und ihrem Feind stark genug ist. Aus dem, was Ihr mir berichtet habt, ergibt sich, dass keines Eurer Bande Euch Macht über diesen Menschen verleiht, falls er noch ein Mensch ist, obwohl es sich bei ihm inzwischen sicherlich um einen Dämonenmann handelt. Das Band, der Kettfaden, ist dort nicht stark genug, wo sich die Lebenslinien kreuzen, aber nicht miteinander verbinden.
Aber das Band zwischen ihm und Rhapsody ist anders. Hier gibt es eine unmittelbare Verbindung. Das macht sie mächtiger, aber auch verwundbarer, wenn es um Michael geht. Das ist der Kettfaden, die stärkste aller Verbindungen. Daher ist sie besser als Ihr in der Lage, gegen ihn zu kämpfen. Wenn es ihr nicht gelungen ist, zu gewinnen, so wie es den Anschein hat, könnt Ihr nicht viel gegen ihn ausrichten.«
»Dennoch würde ich sowohl mein Leben als auch mein Nachleben bei dem Versuch aufs Spiel setzen«, sagte Ashe. »Vielen Dank für Eure Hilfe, Euer Gnaden. Entschuldigt mich jetzt. Ich muss meine Frau finden.« Er ging zur Treppe, die zum Altar hochführte, wurde aber von der tiefen Stimme des Patriarchen aufgehalten.
»Wartet. Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet.«
»Wie lautet sie?«, fragte Ashe und bemühte sich, nicht die Geduld zu verlieren.
»Wie hat die Waage entschieden?«, fragte der heilige Mann. »Ich habe von Sorbold keine Nachrichten vom Ausgang Eurer Unterredungen erhalten.«
»Das wüsste ich auch gern«, sagte Achmed.
»Die Waage ist zugunsten der Kaufmannschaft ausgeschlagen«, klärte Ashe sie auf.
»Der Kaufmannschaft?«, erstaunte sich der Patriarch. »Wen hat sie erwählt?«
»Den Herrscher der westlichen Gilden, einen Mann namens Talquist«, sagte der Herr der Cymrer. »Er scheint besonnen und vernünftig zu sein. Er will nur ein Jahr lang als Regent herrschen und erst danach den Kaiserthron besteigen, falls die Waage ihn bestätigen sollte.« Er verstummte, als er sah, wie das Gesicht des Patriarchen blass wurde. »Euer Gnaden? Was ist los?«
»Talquist?«, fragte der heilige Mann leise. »Seid Ihr sicher?«
»Was stört Euch an ihm?«, wollte Achmed wissen.
Der Patriarch setzte sich benommen auf einen Stuhl neben dem Altar. »Ihr hättet mir keine schlechteren Nachrichten bringen können«, sagte er zu Ashe. Seiner tiefen Stimme fehlte nun die Kraft, die sie sonst besaß.
»Warum?«, wunderte sich Achmed. »Sagt uns, warum.«
Der Patriarch starrte durch die Öffnung in der Decke der Basilika auf den Turm, der sich darüber in das endlose Blau erhob.
»›Kaufmann‹ ist eine sehr freundliche Umschreibung für das, was Talquist ist«, sagte er schließlich und beobachtete die Wolkenfetzen über ihm. »Er ist ein Sklavenhändler der grausamsten Sorte und der geheime Anführer einer Flotte von Piratenschiffen, die mit menschlicher Beute handeln. Die Kräftigen verkaufen sie an die Minen oder, schlimmer noch, an die Arenen, und den Rest benutzen sie als Rohmaterial für andere Güter. Aus dem Fleisch der Alten machen sie Kerzen und Knochenmehl aus den sehr Jungen. Tausende sind in den Arenen von Sorbold getötet worden. Ich kann nicht einmal abschätzen, wie viele weitere den Tod in den Minen und Salzpfannen oder auf dem Meeresgrund gefunden haben. Er ist ein Ungeheuer mit dem Lächeln eines Ehrenmannes und dem Anschein des Normalen, aber er ist und bleibt ein Ungeheuer.«
»Die Waage hat ihn aber bestätigt«, sagte Ashe. »Ich habe es selbst gesehen.«
»Warum habt Ihr vor Eurer Abreise nichts gesagt?«, fragte Achmed den Patriarchen ungläubig.
»Wenn Ihr wusstet, dass dies ein möglicher Ausgang des Auswahlverfahrens war, hättet Ihr doch dazwischentreten können.«
»Es steht mir nicht zu, die Waage in Verruf zu bringen«, antwortete Constantin. »Ich habe ihr meine Position zu verdanken. Wie könnte ich ihre Weisheit in Frage stellen, ohne dabei einen inneren Widerspruch heraufzubeschwören?« Er seufzte schwer. »Und wenn ich meine Vergangenheit in der Arena zugeben würde, stünde das Reich der Rowans plötzlich im Mittelpunkt des Interesses, was ihnen gar nicht willkommen wäre. Und schließlich war er nicht der einzige Mann im Rennen, der Blut an den Händen hatte. Wenn ich jeden herabsetzen wollte, den ich des Kaiserthrons für unwürdig erachte, würde Sorbold weiterhin ein führerloser Staat bleiben. Um die Wahrheit zu sagen, hatte ich gehofft, sie würden sich in Stadtstaaten auflösen, aber die Waage hat anders entschieden.«
Er stand auf und legte die Hand auf Ashes Schulter.
»Ich werde mich jeden Tag beim All-Gott für Eure Frau und Euer Kind einsetzen«, sagte er. »Und für Eure Bemühungen, diesen Wind des Todes zu finden, der nun der Wind des Feuers ist. Ich bete darum, dass auch Talquist einen Herzenswandel erfahren wird, so wie es mir hinter dem Schleier des Hoen erging. Vielleicht ist die Tatsache, dass er nicht sofort zum Kaiser gekrönt werden wollte, schon ein Anzeichen dafür.«
»Das bezweifle ich«, meinte Achmed. »Nach meiner Erfahrung werden Männer, die nach Blut und Macht dürsten, nur noch durstiger, wenn sie das bekommen, was sie haben wollen. Ihr seid die einzige Ausnahme von dieser Regel.«
Die drei Männer dankten dem Patriarchen, stiegen gemeinsam die Stufen hinunter und ließen ihn unter der Öffnung in der Decke zurück. Er starrte wieder in den Himmel.
An der Tür der Basilika packte Grunthor Ashe an der Schulter.
»Ein Kind?«, fragte er. »Das hast du bisher nicht erwähnt. Warum nicht?«
»Brich sofort nach Ylorc auf«, unterbrach Achmed ihn. »Dort gibt es ein anderes Kind, für das wir die Verantwortung tragen. Das ist weitaus wichtiger, als Rhapsody zu finden. Oder Michael.« Er wandte sich an Ashe.