»Wenn wir sie gemeinsam suchen, haben wir größere Aussicht auf Erfolg«, sagte er, »auch wenn ich noch immer nicht die leiseste Spur ihres Herzschlags höre. Ich habe bis jetzt noch nie ihren Klang verloren, wie weit weg, wie tief unter der Erde oder wie krank sie auch war. Ich vermute, dass er sie getötet hat. Das sähe ihm ähnlich. Ich verstehe, dass du sie suchen willst und blind für alles andere bist, aber du musst verstehen, dass ich ihn jagen will. Wenn wir ihn finden, können wir wenigstens in Erfahrung bringen, was er mit ihr gemacht hat. Sind wir uns einig über diese Arbeitsteilung?«
»Ja«, sagte Ashe knapp.
»In Ordnung.« Er zog Grunthor beiseite, um einige Worte mit ihm zu wechseln.
»In Ylorc befindet sich eine Frau namens Theophila aus dem Stamm nomadischer Kunsthandwerker, die unter dem Namen Panjeri bekannt sind. Sie hat Zugang zur Schmiede und erhält alles, was sie für ihre Arbeit am Lichtfänger braucht. Sie kann sehr launisch sein, also verärgere sie nicht. Ich habe anderthalb Jahre nach jemandem wie ihr gesucht.«
Grunthor schaute ihn zweifelnd an. »Ja.«
»Gute Reise«, sagte Achmed. »Ich bringe dir dein Pferd Felssturz mit, wenn ich zurückkomme.«
Der Bolg-Sergeant schüttelte den Kopf. »Bring lieber das Prinzesschen mit. Verlier dich nicht in deiner Blutfehde mit diesem Michael und vergiss nicht, wen wir hier wirklich vermissen.«
Achmed und Ashe waren schon gegangen.
»Wenn sonst nichts mehr ist, Herr, gehe ich jetzt zurück in die Kanzlei«, sagte Nielash Mousa zu dem neuen Regenten und verneigte sich ehrerbietig.
Talquist schaute von dem schweren Mahagonitisch auf und lächelte aus den Tiefen der Papierberge hervor. Sein dunkles Gesicht glühte im dämmerigen Licht des Nachmittags, das vor dem Fenster unter einem herankommenden Gewitter immer düsterer wurde.
»Nein, rein gar nichts, Euer Gnaden«, sagte er freundlich. »Ich glaube, alles befindet sich wieder auf einem guten Weg zurück in die Normalität. Vielen Dank für alles, was Ihr getan habt, um diesen Übergang zu erleichtern.«
Der erschöpfte Seligpreiser lächelte ebenfalls. »Es ist mir ein Vergnügen gewesen. Bitte schickt nach mir, falls Ihr mich braucht, mein Herr.«
»Das werde ich tun. Geht nun nach Hause und ruht Euch aus. Ich brauche Euch gesund und kräftig, und das werdet Ihr bald nicht mehr sein, wenn Ihr Euch nicht schont.«
»In Ordnung. Guten Abend«, sagte der Segner von Sorbold und verneigte sich wieder. Er drehte sich um und ging hinter seinen Männern aus der gewaltigen Bibliothek.
Talquist sah ihm nach und widmete sich dann wieder seinen Akten.
Kurze Zeit später schlüpfte ein Mann durch die offen stehende Doppeltür und schloss sie leise hinter sich.
Der Regent schaute auf. Belustigung lag in seinem Blick. Er griff nach dem canderianischen Branntwein, der in der offenen Flasche auf dem Tisch neben den Akten stand, und deutete auf ein leeres Glas. Der Mann schüttelte den Kopf und lehnte ab.
»Ich glaube, ich hätte diese Worte zu dir sagen sollen«, meinte Talquist und füllte sein eigenes Glas auf. »Vielen Dank für alles, was du getan hast, um diesen Übergang zu erleichtern.«
Lasarys blinzelte nervös. Seine Augen waren nicht an das Licht gewöhnt.
»Gern geschehen, Herr«, stammelte er.
»Du siehst verärgert aus, Lasarys. Warum?«
Der Küster versuchte dem dunklen Blick des Regenten standzuhalten, doch es war zu anstrengend für ihn. »Ich... ich bin nur müde, Herr. Die letzten Wochen waren schwierig.«
»Aha. Ich verstehe.« Talquist lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch. »Schließlich musstest du dem Seligpreiser überallhin folgen und dich um die Staatsgäste kümmern. Sind sie inzwischen alle wieder fort?«
»Ja, Herr. Der Wahrsager ist heute Morgen abgereist.«
Talquist schaute aus dem Fenster auf den Hof unter ihm, wo die Garde der verstorbenen Kaiserin exerzierte.
»So, so. Er und ich sind noch lange aufgeblieben und haben mit Beliac gesprochen. Jetzt bist du von deinen Pflichten als Gastgeber entbunden, Lasarys. Du kannst in deine dunkle Höhle im Nachtberg zurückkehren und dich um deine geliebte Kathedrale kümmern. Das Lebendige Gestein, das du in ihr für mich geerntet hast, war unschätzbar wichtig zur Erreichung meines Zieles. Herzlichen Dank dafür.«
Der Küster wirkte krank. Talquist schaute ihn nicht mehr an.
»Was ist los, Lasarys? Hast du Bedenken bekommen? Dafür ist es ein wenig spät, nicht wahr?«
»N... nein, keine Bedenken, Herr«, sagte der Küster rasch und rang die Hände. Talquist stand auf, ging zu ihm und legte dem zitternden Priester die schweren Hände auf die Schultern.
»Ich weiß, dass du die dunkle Kathedrale liebst, als wäre sie deine eigene Mutter«, sagte der Regent sanft, wobei er jede Silbe mit der Zunge liebkoste. »Diese kleinsten Stücke belebten Lehms abzuschneiden war für dich, als würdest du die Brüste deiner Mutter abschneiden. Du brauchst dich nicht zu verteidigen, Lasarys, ich kenne dein Herz. Ich habe viel von dir gelernt, als ich dein Messdiener war. Und ich wünschte, ich könnte dir versprechen, dass du solche Qualen nicht wieder durchleiden musst, doch jetzt gibt es keinen Grund mehr, warum ich lügen sollte. Ich bin der Kaiser oder werde es zumindest in einem Jahr sein.« Er streichelte die Wange des Priesters. »Nun geh zurück nach Terreanfor und kümmere dich so liebevoll wie immer um die Basilika. Und während du dich in der Dunkelheit herumdrückst, wirst du nach anderen Plätzen Ausschau halten, die du abernten kannst. Es ist besser, jetzt schon im Geheimen damit anzufangen, als einen der Bäume oder gar die Elefanten aus Lebendigem Gestein zu töten! Ach, wie ich diese Elefanten liebe, diese dunklen, glimmenden Ungeheuer. Wir heben sie uns bis zum Schluss auf, nicht wahr?«
Der Küster nickte; er war nicht mehr in der Lage, zusammenhängend zu reden.
Talquist lächelte. »Gut. Wir befinden uns mitten im Sommer, und er wird bald zu Ende gehen. Die Erde wird einschlafen und das Leben sich in den Untergrund zurückziehen, um Winterschlaf zu halten, genau wie wir. Aber im Frühling, Lasarys! Ach, im Frühling ...«
Er schlenderte auf den Balkon und pfiff freudig.
38
Omet war die ganze Nacht lang auf und arbeitete fieberhaft.
Schatten tanzten wie wahnsinnig über die rauen Steinwände seiner Kammer im zweiten Flügel des Soldatenquartiers. Omet hatte es immer vorgezogen, bei den Soldaten zu leben, anstatt sich ein Gastquartier mit Shaene zu teilen, der schnarchte und kleinlich war und überdies als angeworbener Kunsthandwerker nur während der Arbeit am Glasprojekt in Ylorc wohnte. Omet hingegen hatte vor, für immer hier zu bleiben.
Irgendwo in diesen Bergen ereignet sich etwas Großartiges, hatte Rhapsody vor drei Jahren nach seiner Befreiung aus der Ziegelei der Gildenmeisterin zu ihm gesagt, als sie sich an der Grenze zwischen Yarim und Ylorc getrennt hatten. Du kannst ein Teil davon sein. Geh hin und schreibe deinen Namen in den zeitlosen Fels, damit es die Geschichte sehen kann. Von diesem Augenblick an hatte er genau das vorgehabt, was recht bemerkenswert war, wenn man bedachte, dass er noch wenige Tage zuvor nicht über den nächsten Abend hatte hinausdenken können und nichts anderes als die Öfen und Schmelzen gekannt hatte.
Und es war wahr geworden. Die Bolg hatten ihn so freundlich aufgenommen, wie es ihnen möglich war, und ihn nicht als verdächtigen Fremden, sondern als einen der Ihren behandelt. Er wusste um die Seltenheit dieses Glücks und begriff, warum eine halb-lirinische Frau wie Rhapsody, die in diesem rauen Reich kannibalischer Halbmenschen so fehl am Platze wirkte, Land und Leute so liebte wie ihr eigenes Volk in Tyrian.
Er verspürte dasselbe unstillbare Verlangen, das Reich und dessen König vor Estens Untaten zu schützen. Dieses Verlangen kämpfte mit einem anderen starken Drang.