Mit dem Drang, so schnell wie möglich aus dem Kessel fortzulaufen und nicht einmal zurückzuschauen.
Doch auch als die Panik durch sein Blut jagte, wusste er, dass es nicht weise war, einfach zu flüchten. Alles kam früher oder später zu Esten.
Ein Wagnis war er jedoch eingegangen. Zwischen seinen Zeichenarbeiten hatte er die Hand ausgeruht und dabei sorgfältig Notizen in einer Mischung aus phonetisch buchstabiertem, schlechtem Bolgisch und, wenn es nötig war, in der Gemeinsprache gemacht und darin festgehalten, was die Gildenmeisterin in Abwesenheit des Königs getan hatte. Seine eigenen Aktivitäten sowie den Ort, an dem er die Originalzeichnungen versteckt hatte, hatte er ebenfalls notiert.
Er erinnerte sich an weitere Worte Rhapsodys, als er im Licht der Laterne schwitzte, kopierte und ausstrich, kopierte und ausstrich.
Mach Gebrauch von deinen Fähigkeiten und deiner Phantasie. Ich glaube, du kannst einer der großen Handwerker bei den Restaurierungsarbeiten werden.
Omet hielt das Pergament, an dem er arbeitete, seit er den Gurgus verlassen hatte, gegen das Lampenlicht. Er kicherte über die Ironie ihrer Worte.
Die Pläne, die er neu gezeichnet hatte, waren selbst seiner vorsichtigen Einschätzung nach eine beeindruckende Kopie des Originals. Er hatte dazu Teile alten Pergaments benutzt, das man in einem mit einem alten Wachssiegel verschlossenen Reisbehälter in einem der tiefsten Stockwerke von Gwylliams unterirdischer Bibliothek entdeckt hatte. Zweifellos waren es einmal Dokumente gewesen, doch in den Jahrhunderten war die Tinte wohl allmählich verblasst und schließlich verschwunden, als wäre sie nie auf das Pergament gebracht worden.
Nachdem er eine überzeugende Oberfläche für seine Täuschung gefunden hatte, widmete er den Rest des Tages dem vorsichtigen Kopieren so vieler Elemente des echten Planes, dass die Fälschung mit einigem Glück glaubhaft wirkte. Mit vorsichtiger Hand zog er Maßstabslinien dort, wo eigentlich Rohre hätten sein sollen, und tilgte alle Hinweise auf das Rad. Auch zeichnete er nur die ungefähre Lage der farbigen Glasteile ein.
Er hoffte, es würde ausreichen.
Sobald er Esten die falschen Pläne übergeben hatte, würde es ein endloses Katz-und-Maus-Spiel sein, denn er musste versuchen, ihr nicht unter die Augen zu geraten, ohne dass sie seine Abwesenheit bemerkte. Wenn Omet daran dachte, trat ihm kalter Schweiß aus den Poren.
Sie hatte ihm bis zum Morgen Zeit gegeben, die Pläne herbeizuschaffen, was ihm die Möglichkeit verschaffte, an der Schmiede vorbeizugehen und dort die Tinte zu trocknen. Er drückte nervös seinen Stuhl zurück und brachte auf dem Pergament einige letzte Tupfen an; dann schlüpfte er still aus seinem Zimmer und durch die Korridore, die zu den großen Schmieden führten.
Da er befürchtete, Esten und einige der anderen könnten sich die Öfen ansehen, lief er die Steintunnel weiter hinunter bis zu dem gewaltigen, sengenden Inferno tief im Berg, wo die Stahlkocherei lag. Die Hitze an diesem Ort des schmelzenden Erzes und glühend heißen Metalls war sengend. Zwei getrennte Schmieden arbeiteten Tag und Nacht. Die eine stellte gewöhnliche Waffen her, die aufgrund eines Handelsabkommens nach Roland und Sorbold verkauft wurden; die andere hingegen produzierte Achmeds eigene Erfindungen: die Svardas, die schweren, aber vollkommen ausbalancierten Wurfmesser mit drei Klingen, ferner kurze, gedrungene Armbrüste mit besonderem Rückstoßverhalten zum Gebrauch in den Tunneln von Ylorc, gespaltene Pfeilspitzen und schwere Pfeile für Blasrohre, die so ausgewogen waren, dass sie besonders tief eindrangen, sowie mitternachtsblaue Wurfmesser aus Stahl, die scharf wie Rasierklingen waren und die Nahkampfwaffe der meisten Bolg darstellten, und natürlich die Scheiben für die Cwellan des Königs. Nur dieser eine Ofen durfte so stark erhitzt werden, dass er die blau-schwarze Legierung aus Rysin und Stahl herstellen konnte.
Und da man Esten versprochen hatte, Werkzeuge nach ihren eigenen Entwürfen in den Schmieden anzufertigen, würde sie sicherlich Zutritt zu diesen schwer bewachten Produktionsstätten bekommen, deren Flammen sich unmittelbar aus dem Feuer im Herzen der Erde speisten.
Kalte, prickelnde Panik stieg wieder von seinen Füßen auf. Er blickte über das halbe Dutzend übereinander liegender Ambosse und Feuer, die in jeder Schicht von dreitausend Bolg bedient wurden, die die Flammen schürten, das Erz schmiedeten, den Stahl formten und das Abzugssystem bedienten, das Hitze und Ruß im Sommer aus dem Berg abließ und es im Winter umwälzte, filterte und zu Heizzwecken durch die Tunnel von Ylorc leitete. Omet war zufrieden, dass ihn niemand beobachtete. Er entrollte das Pergament und hielt es kurz in den dörrenden Wind der Schmieden. Dann wickelte er es rasch in Leder ein, bevor es sich entzünden konnte.
Er befand sich im Krieg, aber er war überzeugt, dass sein Feind im Augenblick noch nicht darum wusste.
Ihm war klar, warum Esten in den Berg gekommen war. Sie wollte Rache nehmen. Er hatte keine Ahnung, auf welche Weise dies geschehen würde, doch das Eindringen in Achmeds uneinnehmbaren Berg hatte sie brillant geplant und makellos in die Tat umgesetzt – wie all ihre Unternehmungen. Die Wölfin befand sich im Hühnerstall, und der Bauer hatte sie unbewusst dazu eingeladen und ihr die Tür aufgehalten.
Es würde kein gutes Ende nehmen.
Es war nur eine Frage der Zeit.
Also los, dachte er, als er durch die dunklen Korridore zum hohen Gipfel des Gurgus ging, der eines Tages in einen Lichtfänger verwandelt werden würde.
Aber nicht, solange Esten sich noch innerhalb des Berges befand.
Er hoffte, er würde lange genug überleben, um dem Firbolg-König erklären zu können, was er getan hatte.
Esten wartete im Wind auf der Spitze eines Felsvorsprungs und beobachtete, wie die Postkarawane näher kam. Die Sonne ging über den Krevensfeldern unter und überzog sie mit Gold, das an den Rändern rot wurde. Die Wärme deutete unheilschwer auf die Dinge, die noch kommen sollten. Das süße Gefühl des Sommers hing in der Luft. Esten erlaubte sich das kurze Vergnügen, die Augen zu schließen und tief durchzuatmen. Sie roch den Wind, auf dem bald Regen herbeikommen würde, den Duft üppigen Grases, das vor Leben überquoll und sich der untergehenden Sonne in freudigem Schmerz entgegenbeugte, das unablässige Brummen der Insekten und die kühlen Windstöße. Ferne, nadelfeine Lichter kämpften in Gehöften und Außenposten gegen die herannahende Dunkelheit. Sie erlaubte sich nur diesen kurzen Moment. Dann öffnete sie die Augen rasch wieder und sah weiterhin der Karawane zu, die aus Yarim kam. Sie zog die Knie an die Brust, dachte nach und gestattete ihren Gedanken, durch metaphysische Gassen zu wandeln, in denen der allgegenwärtige Tod wartete.
Es war sechs Tage her, dass der Bolg-König sie an diesen Ort gebracht hatte, und sechs Tage, seit er davongeritten war.
Nach beinahe einer Stunde kam die Karawane in Sichtweite der Felsen, zwischen denen Esten lauerte. Die Vorhut bildete das erste Drittel des Geleitschutzes von etwa neunzig Soldaten, gefolgt von vier Wagen und einer Kutsche, um welche die restlichen Streitkräfte verteilt waren. Der offiziellen Karawane folgte ein inoffizieller Konvoi. Es waren Reisende, die den Schutz durch die Soldaten und die eigene Gruppe suchten, denn sie glaubten, Sicherheit sei eine Sache der Zahl und der Waffen. Hinter dieser Karawane zog ein bunt Zusammengewürfelter Haufen her. Einige Bauern kehrten vom Markt zurück, einige Pilger hatten die heiligen Stätten besucht.
Und ein Geschäftspartner Estens war auch dabei.
Während die Karawane am Außenposten des Griwen vorbeizog, huschte die Gildenmeisterin leise von den Felsen herunter. Sie trug eine einfache schwarze Hose, ein Hemd und einen Sommermantel und über dem kurz geschnittenen Haar einen dunkelblauen Schal, der mit der einbrechenden Dunkelheit verschmolz. Sie drückte sich in die Schatten und wartete geduldig, bis sich der Konvoi zur Nacht zerstreute, die Soldaten in die Gastkaserne gingen und die Versprengten ihr Lager aufschlugen. Dann trat sie gerade so lange in das Mondlicht hinaus, dass Dranth sie erkennen konnte. Er bemerkte sie sofort, ging rasch zu ihr und folgte ihr in die Felsenschatten. Er trug eine kleine, in Leinen gewickelte Truhe und einen großen Sack bei sich. Als Esten zu der Überzeugung gelangt war, dass ihr Treffplatz sicher war, neigte sie den Kopf. Ihr Kronprinz nickte.