»Vielleicht. Es ist das Lied des Bohrens.« Rhapsody faltete die Hände. »Ich bin nicht die Sängerin, die dieses Lied singen kann, aber im cymrischen Bündnis gibt es solche Sänger.«
»Führe das bitte weiter aus«, meinte Ashe, als er die Verblüffung auf den Gesichtern der Ratgeber bemerkte.
Rhapsody setzte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Die Entudenin war die Verkörperung eines Wunders. Das frische Wasser mitten aus dem trockenen Lehm von Yarim galt als Geschenk des All-Gottes und der Götter, welche die einheimische Bevölkerung verehrte, bevor die Cymrer kamen. Daher nahm man an, dass es eine Art von göttlicher Strafe war, als die Entudenin plötzlich schwieg. Was ist, wenn das nicht stimmt?«
Das Schweigen auf ihre Worte wurde nur vom Knistern des Kaminfeuers durchbrochen.
»Bitte fahrt fort«, sagte Tristan Steward.
»Es ist möglich, dass das Wasser der Entudenin aus dem Meer kam«, meinte Rhapsody. »Das würde den Mondzyklus erklären. Die Phasen des Mondes haben ähnliche Auswirkungen auf die Gezeiten des Ozeans. Ich war vor kurzem bei den Lavaklippen an der Südküste der See-Lirin, die ähnlich denen an der Küste bei Avonderre sind. In diesen Klippen gibt es tausende von Spalten und Höhlen, von denen einige nicht tief sind, andere aber sich meilenweit erstrecken.
Da habe ich mich nach der Quelle für das Wasser der Entudenin gefragt. Es ist denkbar, dass eine schmale Bucht dort oder weiter nördlich Wasser durch ein unterirdisches Flussbett bis nach Yarim leitet. Die Gesteinsformationen, aus denen sich die Erde zusammensetzt, sind ungeheuer komplex.«
Rhapsody holte tief Luft, denn vor langer Zeit war sie durch solche Formationen gereist. »Es ist möglich, dass das richtige Zusammenspiel von unterirdischen Erhebungen und Tälern, Flussbetten, Buchten und filterndem Sand zu diesem Süßwassergeysir führte, der tausend Meilen vom Meer entfernt liegt und trotzdem den Gezeiten sowie dem Mondzyklus unterworfen war. Falls sich all das so verhält, dann ist es auch möglich, dass dieser Weg des Wassers irgendwie versperrt wurde. Wenn man ihn wieder öffnen kann, wird das Wasser vermutlich zurückkehren.«
»Wie sollten wir das je wissen?«, fragte Quentin Baldasarre ungläubig. »Falls, wie Ihr zu bedenken gebt, wirklich irgendwo in diesem tausend Meilen langen unterirdischen Tunnel eine Sperre ist, wie sollen wir sie je entdecken?«
Rhapsody lehnte sich vor. »Mann muss diejenigen fragen, die die unterirdische Welt kennen, die täglich durch solche Korridore laufen und die Werkzeuge haben, um sie aus dem Fels zu hauen.«
Verständnis machte sich auf den Gesichtern der Ratgeber breit. Die Herzöge von Roland hingegen sahen finster drein.
»Bitte sagt mir, dass Ihr damit die Nain meint«, bettelte Martin Ivenstrand.
»Ich meine damit natürlich die Bolg«, erwiderte Rhapsody gereizt. »Und ich schätze weder Euren Ton noch Eure Andeutungen. Die Nain wünschen nur so viel Kontakt mit dem cymrischen Bündnis, wie er zur Aufrechterhaltung guter nachbarschaftlicher Beziehungen unbedingt notwendig ist. Die Bolg hingegen sind Vollmitglieder, was den Handel und die Unterstützung des Bündnisses angeht.« Sie wandte sich an Ihrman Karsrick, dessen Gesicht eine ungesunde purpurrote Färbung angenommen hatte. »Es scheint Euch plötzlich nicht mehr gut zu gehen, Ihrman. Ich hatte geglaubt, diese Möglichkeit brächte Euch große Freude und Hoffnung und nicht eine Magenverstimmung.« Sie warf einen kurzen Blick auf den Putenschenkel. »Obwohl es mich nicht überraschen würde, wenn Ihr auch daran leiden solltet.«
Der Herzog von Yarim hüstelte trocken. »Sicherlich halten Eure Hoheit mich nicht für so blöde, dass ich mich mit den Bolg abgebe.«
Die Herrscherin der Cymrer kniff die Augen zusammen.
»Warum nicht, Ihrman? Es gibt schon seit vier Jahren ein Handelsabkommen zwischen Roland und Ylorc. Ihr verkauft ihnen Salz, Ihr kauft ihre Waffen, und sie sind Mitglieder des cymrischen Bündnisses. Warum solltet Ihr sie nicht um ein Gutachten zur Lösung Eures größten Problems bitten?«
»Weil ich keine Lust habe, dem Firbolg-König dankbar sein zu müssen – das ist der Grund«, zischte Karsrick. »Wir teilen eine gemeinsame Grenze. Ich will ihm nicht den Eindruck vermitteln, dass er diese Grenze überschreiten und seine Belohnung von Yarim einfordern kann, wann immer es ihm gefällt.«
»Ich will keinesfalls, dass Ihr Euch in eine solche Lage bringt«, erwiderte Rhapsody. »Wenn er so etwas tun sollte, kann das nicht hingenommen werden. Ich schlage vor, dass Ihr Euch seine Kunsthandwerker vertraglich verpflichtet, wie Ihr es mit denen aus Roland, Sorbold und sogar aus dem fernen Manosse haltet. Habt Ihr etwas dagegen, die Talente der Firbolg-Handwerker zu nutzen?«
»Ich will nicht Horden von Bolg... von Handwerkern nach Yarim einladen. Nein, Eure Hoheit, das mache ich nicht«, gab Karsrick zurück. »Die möglichen Auswirkungen sind eine entsetzliche Vorstellung für mich.«
»Das ist sicherlich keine unvernünftige Haltung«, warf Tristan Steward ein. »König Achmed ist auch nicht glücklich über die orlandischen Handwerker, die in sein Reich kommen. Die Hand voll, die zur Wiedererrichtung von Canrif eingeladen wurden, sind einer unglaublich genauen Prüfung unterzogen worden, und von ihnen hat man nur einen oder zwei wirklich eingestellt. Warum sollten wir Einladungen an die Bolg aussprechen, wenn er unsere Leute auch nicht willkommen geheißen hat?«
»Vielleicht liegt der Grund für König Achmeds Mangel an Gastfreundschaft darin, dass Euer Volk bei seinem letzten Besuch Fackeln und Keulen mitbrachte, Tristan«, bemerkte Ashe. Er hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt, die Hände vor dem Kinn gefaltet und Rhapsodys Erörterungen zugehört.
»Es wird einige Zeit dauern, bis die Bolg das jährliche Ritual des Frühjahrsputzes vergessen haben, das so viele Jahrhunderte auf ihre Kosten durchgeführt wurde.«
»Wenn ich mich recht erinnere, habt Ihr selbst an einem dieser Überfälle teilgenommen, als Ihr noch ein junger Mann in der Heeresausbildung wart, Gwydion«, sagte Tristan Steward dunkel. »Wir sind im selben Regiment geritten.«
»Ihr habt es nicht begriffen«, sagte Rhapsody. »Die Bolg könnten dabei helfen, das Wasser nach Yarim zurückzubringen und es vor der Dürre zu schützen, die das Volk nu bedroht. Wenn es eine Möglichkeit dazu gibt, besteht dann nicht die Verpflichtung, ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen?«
»Besteht für mich nicht die Verpflichtung, für die Sicherheit der Leute zu sorgen, Euer Hoheit?«, fragte Karsrick mit einem Anklang von Verzweiflung in der Stimme.
»Ja«, entgegnete Rhapsody, »genau wie für mich. Deshalb biete ich an, die Verantwortung für das Betragen und die Arbeit aller bolgischen Handwerker, Minenarbeiter oder Künstler zu übernehmen, die nach Yarim kommen und die Entudenin untersuchen. Mir ist wohl bewusst, dass sie zumindest in historischer Hinsicht ein heiliges Relikt ist und Ihr sehr darum bemüht seid, es zu erhalten.«
»Ja.«
»Noch einmaclass="underline" Ich übernehme die Verantwortung für alles, was bei diesem Unternehmen vorfallen sollte.«
Der Herzog von Yarim warf stumm die Hände in die Höhe und setzte sich dann mit einem dumpfen Geräusch auf seinem Stuhl zurück. Die übrigen Ratsmitglieder sahen sich verwundert an. Schließlich seufzte Karsrick ergeben.
»In Ordnung, Euer Hoheit.«
Rhapsody lächelte strahlend, als sie vom Tisch aufstand. »Gut! Vielen Dank. Wir werden König Achmed und seine Männer in vier Wochen am Fuß der Entudenin treffen.« Sie schaute in die ausdruckslosen Gesichter vor und neben ihr. »Nun, gute Ratgeber, wenn Ihr nichts Dringendes mehr an diesem Abend zu beraten habt, werde ich meinen Gemahl nun für mich beanspruchen und Euch verlassen, damit wir alle etwas Ruhe bekommen.«
Ashe war sofort auf den Beinen. »Ja, vielen Dank für Eure Geduld. Ich werde mich darum kümmern, dass Ihr morgen alle lange schlafen könnt. Wir werden uns erst übermorgen wiedersehen. Frühestens.
Gute Nacht, Gwydion.« Er schob den Stuhl unter den Tisch, verneigte sich vor seinen Ratgebern und geleitete Rhapsody rasch aus der Bibliothek. Auf dem Weg quer durch den Raum beugte er sich zu ihr nieder und flüsterte sanft: »Nun, meine Liebe, willkommen zu Hause. Es ist gut zu sehen, dass die Erzeugung von Hader unter den Ratsmitgliedern immer noch ein Merkmal der Familie ist.«