»Ihr seht gut aus, Gildenmeisterin«, sagte er leise. »Entwickelt sich alles so, wie Ihr es geplant habt?«
»Alles«, sagte Esten zuversichtlich. »Sich unter die Panjeri zu mischen war viel einfacher, als ich mir je hätte träumen lassen. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass mir die Erziehung meines Vaters einmal so nützlich sein könnte. Und der Bolg-König ist von seinem Projekt wirklich so besessen, wie wir es vom Hierarchen in Yarim gehört haben. Das ist gut so, denn ohne die Ablenkungen wäre er noch gefährlicher, als ich es mir vorgestellt hatte. Doch angesichts des Todes der sorboldischen Kaiserfamilie, der farbigen Decke, die er in einen Berggipfel einlassen will, und dessen, was ihn unvorbereitet zur Abreise genötigt hat, kann er sich nicht konzentrieren. Es wird ihn völlig unerwartet treffen.«
»Gut.« Dranth übergab ihr die eingewickelte Truhe. »Hier ist die Pikrinsäure, um die Ihr gebeten habt. Seid bitte vorsichtig damit, Gildenmeisterin. Denkt daran, sie feucht zu halten, dann ist sie leicht entzündlich. Wenn sie austrocknet ...«
»Ich weiß. Vielen Dank, Dranth. Hast du damit die Versuche angestellt, um die ich dich gebeten habe?«
»Ja. Da Glas selbst verflüssigbar ist, hält die Säure es in einem flüssigen Zustand, wenn man sie nach dem Aushärten aufträgt. Durch große Hitze kann sie wieder getrocknet werden. Die andere Säure befindet sich in grünen Fässern und wird von der Karawane bei Sonnenaufgang zugestellt.«
»Sehr gut.« Esten setzte die Truhe ab und griff zwischen die Falten ihrer Kleidung.
»Hier sind die Karten, die ich gezeichnet habe, sowie die Beschreibung der Vorräte und meine Analyse der bolgischen Infrastruktur, ferner die Auflistung ihrer Schätze, Streitkräfte, Waffen und so weiter«, sagte sie und gab Dranth die Papiere. »Verteil sie. Für einen angemessenen Preis natürlich.«
»Ja, Gildenmeisterin.«
»Sie halten mich noch an der kurzen Leine, aber ich habe einen von ihnen in meinen Bann gezogen – einen närrischen Kunsthandwerker aus Canderre, der mir alles bringt, was ich brauche, und mir die Gebiete beschreibt, die ich noch nicht betreten durfte. Aber er muss mir noch verraten, wo der Bolg-König schläft.«
Dranths Gesicht verzog sich ironischerweise zu einer Maske der Besorgnis.
»Wollt Ihr, dass wir im Berg ausschwärmen, Meisterin? Damit Ihr nicht allein seid?«
Esten lächelte böse.
»Mach dir um mich keine Sorgen, Dranth. Wenn der Bolg-König endlich zurückkehrt, werde ich die Einzige sein, die in diesem gottverlassenen Berg überlebt hat.«
Sie wartete, bis die Nacht seinen Schatten aufgesogen hatte, bevor sie den im Dunst liegenden Berg hochstieg. Ein hartnäckiger Wind zauste ihr das Haar, als sie sich über die Grate mühte und den beschwerlichen Rückweg durch Felsspalten und Gebüsch zum Licht und der Wärme des Kessels antrat.
39
Rhapsody wusste, dass die Flut wieder stieg. Beim ersten Mal war sie in Panik geraten und hatte mehrfach befürchtet, sie werde ertrinken, als sich die Höhle bis zur Decke mit beißender Gischt gefüllt und unbarmherzige Strudel gebildet hatte.
Beim ersten Mal hatte sie geschlafen, hatte erschöpft auf dem Sims geruht, der einzigen festen Stelle in der Höhle. Ihre Hände waren frei gewesenes hatte nicht lange gedauert, bis der wahre Name der Maisfasern – tesela - das Seil geglättet hatte, das grausam fest um ihre Handgelenke gezurrt worden war. Es hatte sie keine große Anstrengung gekostet, es zu zerreißen.
Der Pfeil, den der Bogenschütze auf sie abgefeuert hatte, war in dem Ledergürtel um ihre Taille stecken geblieben. Zum Glück hatte er das Gelenk zwischen dem Gürtelband und der Schwertscheide getroffen und ihre Niere verfehlt, doch sie hatte eine böse Prellung und eine Fleischwunde davongetragen, die im wirbelnden Salzwasser entsetzlich schmerzte. Sie hatte den Gürtel abgenommen und den Pfeil herausgezogen. Da sie ihr Schwert nicht mehr besaß, war die Scheidenspitze der einzige scharfe Gegenstand, der sie bei ihrem Sturz hatte verletzen können. Trotz ihres Gesangs war sie härter auf dem Wasser aufgeschlagen, als sie zuerst bemerkt hatte. Das einzige Glück hatte darin bestanden, dass sie nicht auf die Felsen gestürzt war. Der Aufschlag, das Seewasser und der Verlust des Gleichgewichts, den sie in letzter Zeit so oft hatte erfahren müssen, hatten sie fast bewusstlos gemacht, als sie mit der einsetzenden Flut in die Höhle gespült worden war. Nachdem sich die Flut das erste Mal zurückgezogen und die Höhle halb vom Wasser geleert hatte, hatte Rhapsody die Gelegenheit ergriffen und ihre Umgebung ertastet. Im herrschenden Zwielicht war sie so gut wie blind gewesen. In der Rückwand der Höhle befanden sich Spalten, durch die bei Niedrigwasser ein Luftzug zu spüren war, doch sonst hatte sie nichts entdeckt. Sie hatte lediglich noch die Meeresströmung gesehen, die in der Höhle gewirbelt hatte. Weil Rhapsody von ihr in die Höhle gezogen worden war, hatte sie den Felsen entgehen können. Die Strömung war ein Strudel mit einer starken gegenläufigen Unterströmung gewesen. Es war beinahe unmöglich gewesen, dagegen anzuschwimmen, und Rhapsody hatte weder genug Kraft noch genug Körpermasse dazu. Ich muss Süßwasser finden, hatte sie gedacht, ganz benommen vor Erschöpfung. Und Nahrang. Wenn ich noch schwächer werde, muss ich hier drinnen sterben.
Aber zuerst muss ich schlafen und dabei gesund werden.
Der Schlummer, in den sie gefallen war, war so tief und traumlos gewesen, dass sie nicht einmal gespürt hatte, wie die erste Welle über sie hereingebrochen war.
Erst als ein rollender Brecher sie durchnässte, erwachte sie ruckartig. Angst durchtränkte sie bis in ihr Innerstes.
Die Tide wechselte schnell und brauste mit einer Gewalt in die Höhle, die Rhapsody noch mehr entsetzte. Sie wurde sofort wieder untergetaucht und gegen die Höhlenwand geschleudert, nie aber aus der Grotte herausgesogen, sondern von der unbarmherzigen Strömung an Ort und Stelle gehalten. Sie drückte die befreiten Hände gegen die Felsendecke, als die Wellen sie hochwarfen, und hielt den Kopf nach hinten, damit Augen und Nase der beißenden Gischt entgingen.
Als sie auf dem Wasser schaukelte und schleimigen Seetang an sich Vorbeitreiben spürte, drückte sie ihn zur Seite und versuchte sich an die Worte ihres Vaters zu erinnern, die er in einem anderen Leben beim Schwimmunterricht in einem tiefen Teich zu ihr gesagt hatte.
Sie dachte daran zurück und versuchte damit ihr rasendes Herz zu beruhigen.
Zu tief, dachte sie. Es ist zu tief.
Hör auf, mit den Armen umherzudreschen.
Die Stimme ihres Vaters hallte ihr im Kopf wider. Sie war so deutlich und befehlend wie einst. Sie hielt die Arme ruhig, blieb reglos und ließ es zu, dass die Strömung sie hochhob. Das Teichwasser war kalt gewesen, so kalt wie das Meer. Grüner Schaum war an der Oberfläche getrieben, als das Seegras an ihr vorbeigeschwommen war. Sie hatte den Grund des Teiches nicht sehen können, und genauso wenig vermochte sie nun den Boden der Höhle zu erkennen.
Vater?, flüsterte sie. Ihre Lippen schmeckten nach Salz.
Ich bin hier, mein Kind. Bewege die Arme langsam. Das ist besser.
Es ist so kalt, Vater. Ich kann nicht oben bleiben. Es ist so tief. Hilf mir.
Entspann dich, hatte ihr Vater gesagt. Ich halte dich oben.
Rhapsody holte tief Luft und spürte, wie die Anspannung in der Lunge ein wenig nachließ. Die Erinnerung an das lächelnde Gesicht ihres Vaters, seinen tropfenden Bart und seine nassen Augenbrauen sowie an die Bäche, die ihm an den Wangen herunterrannen, als er vor so langer Zeit aus dem Teich aufgetaucht war, erstand vor ihrem geistigen Auge. Sie hatte schon einmal ihre ganze Aufmerksamkeit auf dieses Bild gerichtet, damals, im Bauch der Erde, als sie sich einen Weg entlang der Wurzel des Weltenbaumes gebahnt hatte und ihrer Seele dieser Ort so fremd gewesen war wie die Höhle, in der sie nun gefangen war.