Wenn Flut herrschte, kämpfte sie nicht mehr, sondern betrachtete diese Stunden als Unterricht in der Musik des Meeres. Während sie auf dem Rücken schwamm, hörte sie Melodien auf den Wellen. Zunächst waren es nur die zusammenhanglosen Tonfolgen wirbelnden Wassers, des Anbrandens und Versickerns. Sie versuchte sich auf ihr Schwimmen zu konzentrieren, denn sie wusste, dass ihr Kind in ihr ebenfalls schwamm.
Wenn du in deiner kleinen, dunklen Höhle voller Wasser keine Angst hast, brauche ich auch keine zu haben.
Sobald sie alle Furcht aus ihrem Kopf verbannt hatte, hörte sie es: die Weisheit des Meeres, die Gesänge von allen Stränden, die von den Wellen des Ozeans berührt wurden, einige nur als Bruchstück, andere klar und lang. Sie verbrachte den größten Teil ihrer stillen Stunden damit, den Liedern der Seeleute, dem Ruf des Meeresvolkes, den Bruchstücken der Legenden aus der alten Stadt der Mythlin, die nun still unter den Wellen ruhte, und dem Jammern der Familien zu lauschen, die ihre Angehörigen auf See verloren hatten. Es war eine unbeschreiblich schöne Sinfonie des Lebens und der Geschichte – traurig, heroisch, ruhmreich und mystisch.
Sie wurde ihr und ihrem Kind vorgesungen.
Wie viel Glück du in gewisser Weise hast, mein Kind, weil dir diese Zeit geschenkt wird, dachte sie eines Nachts, als das Mondlicht sie in den großen, silbernen Kräuselungen des Niedrigwassers in der Höhle spiegelte. Du wirst mit Elementarmagie durchtränkt – die Taufe der See, das Feuer, das uns wärmt und trocknet, wenn Ebbe herrscht, die Höhle in der Erde, die im Feuer gebildet und im Wasser abgekühlt ist, der Wind, der hindurchbläst und sein zeitloses Lied singt. Eines Tages wirst du wunderbar benennen können, wenn du es willst.
Diese Gedanken reichten aus, um ihre Verzweiflung im Zaum zu halten.
Meistens.
Eines Nachmittags fühlte sich Rhapsody nicht sehr stark und elender als gewöhnlich. Sie schaute von ihrem Sims auf und starrte in helle Augen, die in einem braunen, pelzigen Gesicht saßen. Sie schreckte hoch und wich gegen die Wand zurück.
Das Tier hatte sich ebenfalls erschreckt und verschwand unter der Wasseroberfläche. Als sie sich wieder in eine bequemere Lage zu bringen versuchte, stießen ihre Stiefel plötzlich einen kleinen Hagelschauer aus schwarzen Steinen in das wirbelnde Wasser.
Rhapsody schaute beeindruckt zu, wie das Vulkangestein in Spiralen auf der Oberfläche trieb. Einen Moment später erschien der Otter wieder, den sie zuvor gesehen hatte, und drückte eines der porösen Felsstücke mit der Nase aus der Gezeitenhöhle.
In jener Nacht dachte sie über das nach, was sie gesehen hatte, während sie auf der hereinkommenden Flut schwamm, und versuchte sich vorzustellen, wie es ihr helfen könnte.
Als die Ebbe bereits wieder eingesetzt hatte, kam ihr eine Idee.
Sie würde die Pfeilspitze, die noch in ihrem Gürtel steckte, dazu benutzen, immer wieder Felsstücke aus der Rückwand der Höhle Freizuscharren, und sie mit ihrem Hemd zusammenbinden.
Wenn ich dazu, noch Seegras oder meine eigenen Haare nehme, kann ich vielleicht so etwas wie ein Floß bauen, dachte sie und versuchte sich die Finger nicht allzu sehr aufzuschürfen. Wenn es mich beim Schwimmen in der Flut unterstützt, kann ich möglicherweise darauf bis zum Höhleneingang gelangen, und wenn die Tide fällt, nimmt sie mich mit hinaus. Sie streichelte sich über den Bauch und berichtigte sich.
Nimmt sie uns mit hinaus.
Wenn das Wetter schön war, hielt sie jeden Abend bei Ebbe Ausschau nach dem rosafarbenen Licht, das die Höhle erfüllte und anzeigte, dass die Sonne versank.
Rhapsody hatte das Abendlied, das der Sonne Lebewohl sagte und das Versprechen gab, Wache zu halten, bis sie nächsten Morgen wieder aufging, immer mehr geliebt als die Gebete bei Sonnenaufgang. Es war eine zweiteilige Anbetung, ein Requiem für die Sonne, das die Vollendung eines weiteren Tages anzeigte, wie das Requiem bei einem Begräbnis die Vollendung des Lebens beschrieb. Es war auch ein Gruß an die Sterne, an die Himmelswächter der Lirin.
Ich werde dich nicht vergessen, flüsterte sie, als das Licht im Himmel dünner wurde und schließlich hinter dem Horizont in der Nacht verschwand. Bitte vergiss mich auch nicht.
Dieser Satz klang vertraut. Während sie auf dem Wasser trieb, dachte sie darüber nach, wo sie ihn schon einmal gehört hatte. Dann erinnerte sie sich, als das Wasser ihr um die Ohren wirbelte und sein zeitloses Lied sang.
Es waren die einfachen Worte, die ihre liebe Drachenfreundin Elynsynos zu Merithyn, ihrem Geliebten, gesagt hatte, bevor er ihr Reich verließ und zu seinem König Gwylliam mit der freudigen Nachricht über ein fruchtbares und wunderschönes Land zurückkehrte, das die Flüchtlinge aus Serendair aufnehmen und ihnen eine Heimat bieten würde.
Er hatte es ihr versprochen und war während der Rückreise auf hoher See gestorben. Als Rhapsody sah, wie der erste Stern am Horizont aufging und in dem tiefen Kobaltblau des Spätsommerhimmels glitzerte, fragte sie sich, was wohl geschehen wäre, wenn das Meer Merithyn nicht zu sich genommen hätte – wenn er zu Elynsynos und ihren Kindern zurückgekehrt wäre, die er nie gesehen hatte. Wie anders wäre jetzt alles, dachte sie, während ihre Hand wie immer leicht auf ihrem Bauch ruhte.
Sie dachte an deren Abkömmlinge – an Manwyn und ihre beiden wahnsinnigen Schwestern, die Seherinnen der Vergangenheit und der Gegenwart. Die erste war bereits tot, die zweite lebte ein zerbrechliches, harmloses Leben nur für den Augenblick in einer Abtei in Sepulvarta. Edwyn Griffyth, Anwyns und Gwylliams ältester Sohn, hatte sich freiwillig ins Exil nach Gaematria zurückgezogen, der mystischen Insel der See-Weisen. Llauron, Ashes Vater, befand sich nun irgendwo verloren in der Zeit und unterhielt sich in dunstartiger Drachengestalt mit den Elementen und war eins mit ihnen. Und Anborn. Tränen traten ihr in die Augen, als sie an ihn dachte, an seinen Körper, der in dem brennenden Wald gelegen hatte, an seine Beine, deren Gebrauch er bei dem Versuch verloren hatte, sie zu retten. Ihn hatte sie nicht retten können.
Eine Litanei der Trauer, entstanden aus einem einzigen nicht eingelösten Versprechen. Merithyns Versprechen.
Sie dachte wieder an Anborn und erinnerte sich an ihre gemeinsame Zeit am Lagerfeuer, als sie das Lied ihrer Mutter für ihn gesungen hatte.
Eine edle Tradition. Hast da schon eines für meinen Großneffen oder meine Nichte ausgesucht?
Nein, noch nicht. Mir wird eins einfallen, wenn die Zeit dazu reif ist.
Es ist das Lied des Meeres, dachte sie, die Musik der endlosen Wellen, allgegenwärtig und andauernd sich verändernd, ewig, zeitlos.
Wie die Liebe.
Alle Königreiche der Erde berührend, doch frei, die ganze Welt zu durchstreifen, überall zu Hause.
So wie ich es für dich erhoffe, dachte sie.
Sie fragte sich, ob einige der Melodien, die sie aus dem Meer hörte, endlose Schwingungen waren, die Merithyn in die Luft gesetzt hatte. Es gab eine Sage, nach der die Wellen von seiner Liebe zu Elynsynos erzählten. Es waren Lieder, die sie erlernen und eines Tages der Drachin vorsingen wollte. Während dieser Gedanke ihr Wärme im letzten Licht der untergehenden Sonne brachte, kannte sie plötzlich den Namen ihres Kindes. Er würde ein Lobgesang auf den glücklosen Erforscher sein, der sein Ururgroßvater war, und an den Mann, der sein Vater war.
»Wenn er einverstanden ist, werde ich dich Meridion nennen, ob du nun ein Junge oder ein Mädchen bist«, sagte sie laut zu dem Kind, denn sie wollte, dass es der erste Mensch war, der diesen Namen ausgesprochen hörte. »Merithyn war die Vergangenheit; Gwydion ist die Gegenwart, aber du, Meridion, wirst die Zukunft sein und bist mit allen drei verbunden.«