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Er ist hier, dachte sie. Panik durchflutete sie wie die Strömung die Höhle. Er hat mich gefunden.

Michael hat mich gefunden.

Nach einigen Minuten kehrte ihre Ruhe zurück.

Vielleicht war das wirklich einer von Michaels Männern, doch er lag schon seit Wochen im Wasser, vermutlich genauso lange, wie sie in dieser Höhle feststeckte. Die Wellen hatten den toten Körper widerstrebend freigegeben, nachdem sie ihren Spaß mit ihm gehabt hatten. Der Leichnam hatte mindestens das Doppelte seines Körpergewichtes an Wasser aufgesogen; er war angeschwollen und mit Prellungen übersät. Kaum konnte man ihn noch als Menschen erkennen. Dieser Leichnam wurde von einem Baumstamm in die Höhle hineingetrieben und stieß gegen die Felswand, auf der Rhapsody nun hockte.

Sie senkte den Kopf, um den Gestank abzuwehren, der von dem Mann ausging. Er hatte in der Sommerhitze geschmort, Seewasser eingesogen und löste sich nun allmählich auf, nachdem ihm bereits Penis und Hoden an einem vorstehenden Felsen abgebrochen waren. Hautfetzen und Haare schwammen lose auf dem Wasser und waren bereit, sich jederzeit vom Körper zu lösen. Grauen durchfuhr Rhapsody, als sie die Bedeutung dieses Ereignisses erkannte. Dieser Leichnam war nun ihr Gefährte. Er würde mit ihr hochsteigen, wenn die Höhle geflutet wurde, er würde in den wilden Strömungen gegen sie stoßen und war mit ihr im endlosen Kreislauf des Fließens und Ruhens gefangen.

Ich muss hier herauskommen, dachte sie verzweifelt.

Sie sah hinüber zu dem kleinen Floß aus Vulkangestein, das sie bisher zusammengebunden hatte. Geflochtene Bänder aus ihrem Haar dienten als Seile, die ihm Halt gaben. Es ist noch nicht fertig, dachte sie entsetzt. Es ist noch zu klein.

Sie warf einen erneuten Blick auf den Leichnam. In wenigen Stunden würde er mit ihr in der langen Nachtwache tanzen. Sie erbebte heftig bei dieser Vorstellung.

»Ich muss hier herauskommen«, sagte sie noch einmal laut.

Vielleicht war es nur ihr eigener Verstand, doch sie vernahm eine innere Stimme, möglicherweise ihre eigene, aber sie klang jünger.

Wir müssen hier herauskommen.

Richtig, stimmte Rhapsody stumm zu. Gib mir noch eine weitere Nacht zum Flechten und Binden, und morgen früh, wenn die Ebbe einsetzt, machen wir den ersten Fluchtversuch.

Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich zu fragen, ob Michael schon fort war oder nicht.

44

Traeg

Als die beiden Herrscher die Küste erreicht hatten, erwartete keiner von ihnen ein herzliches Willkommen in einem Gasthaus.

Die Reise über Land war hart gewesen; sie hatten wenig Schlaf und noch weniger Erfolg gehabt. Überall, wo sie hinkamen, waren sie zu spät. Dorf um Dorf war niedergebrannt worden – einige waren zur Hälfte zerstört, andere waren nur noch Asche, die im Wind glühte. In Traeg, dem nördlichsten der kleinen Dörfer, hatte man den peitschenden Wind, der gegen die Küste schlug, schon immer sowohl als Freund als auch als Gegner angesehen, doch unter dem Elementarschwert der Luft in der Hand eines Mannes, der dunkles Feuer verbreitete, hatte er nur dazu gedient, die Verwüstung zu verstärken und die tödlichen Funken überall im Hafen zu verteilen, wodurch die gesamten Anlagen vernichtet worden waren.

An diesen Hafenanlagen hielten Achmed und Ashe eines Nachmittags an und blickten schweigend auf die Verwüstungen.

Keiner von beiden hatte sich die Zeit genommen, zu baden oder sich zu rasieren. Ihr äußeres Erscheinungsbild war aufgrund des Rußes und Staubes der Straße sowie der Sorgen, die an ihnen nagten, immer schlechter geworden. Unter gewöhnlichen Umständen wäre ein zerzauster Reisender mit Kapuze an einem rauen Ort wie Traeg unbemerkt geblieben, doch wegen der funkengleich sich ausbreitenden Gerüchte über Zweier- oder Dreiergruppen von Männern, die durch die Küstendörfer ritten, nach einer blonden Frau suchten und nur verbrannte Erde hinterließen, waren Achmed und Ashe am Strand von ihren Pferden abgestiegen und fanden sich nun als Gegenstand peinlich genauer Überwachung wieder.

»Es wird schwer sein, jemanden davon zu überzeugen, dass wir die Pferde tauschen wollen«, bemerkte Ashe, als sie auf den Überresten des kleinen Dorfplatzes standen.

»Wenn es hier überhaupt welche gibt«, sagte Achmed.

Sie sahen sich nach Lebenszeichen um und fanden sie. Ein winziger Salzladen stand offen. Die Wände waren mit schwarzem Ruß überzogen, aber noch fest. Auch eine Schmiede war unbeschädigt, und eine große Taverne mit einem verrußten Schild hatte anscheinend geöffnet, denn Männer gingen hinein und kamen heraus, wobei sie einander zuriefen.

Die beiden Reisenden gingen den gepflasterten Weg zu der Herberge hinauf. Früher hatten Blumen ihn gesäumt; nun waren sie verbrannt und verkrümmt. Als sie am Schild der Taverne vorbeischlenderten, blieb Ashe plötzlich stehen. Er ging durch eine Reihe schwarz verbrannter Sträucher und schaute es eingehend an. Name und Zeichen lagen unter einer dicken Rußschicht verborgen. Er wischte sie in der Mitte des Wirtshausschildes mit seinem Ärmel fort. Ein in fröhlichen Farben gemaltes und von vergoldeten Buchstaben umgebenes Kopfteil kam zum Vorschein. Ashe wischte noch einmal mit dem Ärmel darüber und trat dann schweigend einen Schritt zurück.

Federhut,

stand auf dem Schild.

Er winkte Achmed aufgeregt zu. »Das könnte ein Vorzeichen sein«, sagte er.

»Wieso?«

»In Yarim sind Rhapsody und ich zu Manwyns Tempel gegangen. Bei all ihrem wirren Gerede hat die Seherin auch etwas über einen Federhut gesagt.«

Achmed warf einen Blick über die Schulter auf die drei Männer, die sich auf der Schwelle des Gasthauses versammelt hatten und die Reisenden eingehend beobachteten. »Was hat sie noch gesagt?«, fragte er leise.

Ashe sah die Männer ebenfalls an und wandte sich dann ein wenig ab, damit seine Worte nicht in den Wind getragen wurden.

»Sie sagte, Rhapsody würde nicht bei der Geburt meines Kindes sterben«, meinte er zögernd. »Das war der Grund, warum wir ihren Rat gesucht haben.«

Achmeds Gesicht war ausdruckslos. »Sonst noch etwas?«

»Ja. Sie sagte zu Rhapsody, sie solle sich vor der Vergangenheit in Acht nehmen. Sie trachte danach, sie zu bekommen; sie trachte danach, ihr zu helfen; sie trachte danach, sie zu vernichten. Sie hat die Vergangenheit beschrieben als eine gnadenlose Jägerin, eine unerschütterliche Beschützerin oder eine rachsüchtige Feindin.«

Achmed schnaubte verächtlich. »Hast du mir sonst nichts zu sagen?«

»Es war irres Gerede. Sie hat uns auch erzählt, was aus der Speisekarte im örtlichen Gasthaus empfehlenswert sei, und hat Empfehlungen für Stephens Kinder gegeben.«

Achmed ging auf die Tür zu. »Sie hört sich wie eine ausgezeichnete Wachfrau an. Vielleicht will sie ja ihren Tempel verlassen und in Ylorc leben.«

Ashe packte ihn am Ellbogen.

»Augenblick mal«, sagte er rasch. »Da gibt es noch eine Prophezeiung.« Er wartete, bis der Bolg-König so nahe bei ihm stand, dass niemand sie belauschen konnte. »›Vor langer Zeit ein Versprechen erdacht, vor langer Zeit einen Namen gebracht, vor langer Zeit eine Stimme gelacht – drei Schulden gemacht.‹«

»Hatte das irgendeine Bedeutung für Rhapsody?«, fragte Achmed.

»Nein, aber ich habe während unserer Reise über diese Worte nachgedacht. Der einzige Teil, in dem ich einen Sinn erkennen kann, ist ›ein Versprechen erdachte Rhapsody hat mir vor langer Zeit gesagt, dass sie gezwungen war, gegen ihren Willen zu lügen und ihr Wort einem grausamen, bösen Bastard zu geben, um für ein Kind Sicherheit zu erlangen. Ich glaube, dieser Mann war der Seneschall, den wir suchen und den du den Atemverschwender nennst.«

Achmed sagte nichts, sondern nickte nur.