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Als sie an dem großen offenen Kamin vorbeigingen, brüllten die Flammen zum Gruß und fielen gleich darauf wieder in ein ruhiges Brennen zurück. Rhapsody blieb stehen und schaute rasch über die Schulter.

Sie blickte in die Feuerschatten, die auf den farbenfrohen Fäden der feinen Webteppiche tanzten, und schließlich auf die Balkontüren an der gegenüberliegenden Seite der Bibliothek. Regentropfen klatschten in Schüben gegen das Glas.

»Hat... hat gerade jemand den Raum betreten?«, fragte sie Ashe leise.

Der Herr der Cymrer hielt ebenfalls inne. Seine Drachenhaften Augen verengten sich ein wenig, als er sich konzentrierte und mit seinen Drachensinnen bis in die hintersten Winkel der gewaltigen Bibliothek drang. Sein Bewusstsein dehnte sich zwischen zwei Herzschlägen aus. Unvermittelt erspürte er jede Faser der Teppiche, jede Kerzenflamme, jede Seite in jedem Buch, den Atem eines jeden Ratsmitgliedes und jeden Regentropfen draußen vor der Festung in allen Einzelheiten. Er bemerkte keine Veränderung. Aber nun war sein Blut abgekühlt.

»Nein«, sagte er schließlich. »Hast du etwas Verwirrendes gespürt?«

Rhapsody seufzte und schüttelte dann den Kopf. »Nichts Greifbares.« Sie hielt die Hand ihres Gemahls. »Vielleicht habe ich es nur sehr eilig, diesen Raum zu verlassen und mit dir allein zu sein.«

Ashe lächelte und küsste ihre Hand.

»Wie immer, Euer Hoheit, beuge ich mich Eurer Weisheit.«

Mit beachtlicher Beherrschtheit wartete er, bis sich die Türen der Bibliothek hinter ihnen geschlossen hatten, bevor er Rhapsody hochhob und sie mit weiten Schritten zu ihren Turmgemächern trug. In der Bibliothek bewegten sich sanft die Damastvorhänge vor der Glastür zu jenem Balkon, welcher auf das cymrische Museum im Hof hinausging. Die Ratgeber, die sofort zu ihren Streitgesprächen zurückgekehrt waren, bemerkten nicht einmal den heulenden Sturm vor den Fenstern der Bibliothek. Einen Herzschlag später hingen die Vorhänge wieder so still herab wie der Tod selbst.

2

Orange

Feuerleger, Feuerlöscher

Frithre

Argaut — Nordland

Der nächtliche Regen fiel in schwarzen Schleiern und wurde in Schauern aus dunklen Nadeln durch die Straßen gepeitscht, bevor er auf die schlammigen Pflastersteine fiel, die zur Halle der Tugend führten – jenem sich hoch auftürmenden Steingebäude, welches das Gericht von Argaut beherbergte. Der Seneschall hielt am oberen Ende der Marmortreppe inne und schien fernen Stimmen in dem tosenden Wind zu lauschen.

Über den Straßen der Stadt lag Schweigen, das wohl von dem kalten Wind und dem hartnäckigen Regen herrührte. Sogar die Tavernen am Hafen und die Bordelle hatten ihre Lichter gelöscht und die Fensterläden vor dem Sturm geschlossen, der vom Wasser herkam.

Der Seneschall warf einen Blick über den Hafen bis zum hinteren Ende der Bucht, wo die Leuchttürme selbst in diesem Regen zu sehen waren. Sie dienten als Orientierungspunkt für die Schiffe auf See, gegen die der Sturm anbrandete. Wir könnten heute Nacht durchaus eines verlieren, dachte er, als er die Signale aus dem Turm beobachtete. Das Licht ergoss sich in gebrochenen Strahlen und schimmerte in größerer Helligkeit, als der Flamme mehr Öl zugegeben wurde. Er atmete tief durch. Wenn der Tod in den Seewinden lauerte, war dies kräftigend für die Lunge. Er schloss die Augen und wandte das Gesicht dem schwarzen Himmel über ihm zu. Der eisige Wind umwehte seine Lider, und der Regen stach ihm in die Haut. Dann schlug er die Augen wieder auf, streifte sich das Wasser von Gesicht und Mantel und stieg die letzten Stufen zur Halle der Tugend hoch.

Die großen Eisentüren der Halle waren gegen Nacht und Sturm verriegelt. Der Seneschall hob den kleinen Leinwandsack, den er in der linken Hand gehalten hatte, ergriff den Klopfer und betätigte ihn. Es klang wie eine Totenglocke, deren Echo kurz widerhallte und dann vom Heulen des Windes verschluckt wurde.

Mit einem metallischen Kreischen wurde eine der gewaltigen Türen aufgezogen, und Licht floss durch die entstehende Öffnung. Die Wache trat rasch beiseite. Der Seneschall klopfte dem Mann auf die Schulter, während er aus der Wut des Sturms in die stille Wärme des hallenden Foyers trat.

»Guten Abend, Euer Ehren«, sagte der Wächter, während er die schwere Eisentür hinter dem Seneschall schloss.

»Hat Seine Hoheit nach mir gerufen?«

»Nein, Herr. Alles ist ruhig.«

Es sind jeden Abend dieselben Worte, dachte der Soldat, als ihm der Seneschall seinen regennassen Mantel und den dreispitzigen Richterhut übergab. Seine Hoheit rief nie nach dem Seneschall; er rief nie nach irgendjemandem. Der Baron von Argaut war ein Einsiedler, der in einem abgesonderten Turm lebte und in tiefster Heimlichkeit nur von einer Hand voll vertrauenswürdiger Ratgeber versorgt wurde, deren Haupt der Seneschall war. Der Soldat stand schon seit vier Jahren hier Wache und hatte den Baron noch nie gesehen.

»Gut. Dann wünsche ich dir einen angenehmen Abend«, meinte der Seneschall. Der Wächter nickte und kehrte auf seinen Posten bei der Tür zurück. Dort lauschte er den schwächer werdenden Schritten des Seneschalls, der das Foyer aus poliertem Marmor durchmaß und durch den langen Korridor zu den Gerichtsräumen ging. Als das letzte Echo erstorben war, erlaubte sich der Soldat wieder den Luxus zu atmen. Die Kerzenflammen in den Wandhalterungen entlang des breiten Korridors zum Gerichtssaal flackerten, als der Seneschall an ihnen vorbeiging, und die Seen von Licht, die sich auf den dunklen Fliesen gebildet hatten, tanzten wild; dann kehrten sie zu einem sanften Pulsieren zurück. Am Ende des langen Hauptkorridors öffnete er die Tür zum dunklen Gerichtssaal und trat ein. Seine Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit. Leise schloss er die Tür hinter sich. Die Augen des Seneschalls brannten an den Rändern, als er liebevoll den Ort betrachtete, an dem so viele Männer und Frauen als Angeklagte gestanden hatten und verurteilt worden waren. Die Bank der Angeklagten und das Podium der Anwälte lagen nun schweigend in der Dunkelheit, doch das Echo des Wehklagens, das heute und an jedem vorangegangenen Tag hier angestimmt worden war, hing noch unsichtbar in der Luft und hinterließ ein köstliches Summen von Schmerz. Der Seneschall ging rasch über den Boden des Schattenumwobenen Raumes, an der verwaisten Zeugenbank vorbei, und hielt kurz am Platz des Gerichtsschreibers an, einem zweigeteilten, käfigähnlichen Tisch mit hölzerner Platte. Darauf lag ein Pergament, das an den Enden eingerollt und ansonsten ausgebreitet war, damit die Tinte trocknen konnte. Viele Namen waren auf diesem Dokument verzeichnet. Es handelte sich um die morgige Prozessliste der verdammten Seelen, die nicht wussten, dass sich ihr Schicksal schon entschieden hatte, lange bevor sie angeklagt worden waren. Der Seneschall betastete das Pergament mit einer Gebärde belustigter Melancholie. Keine Zeit dafür. Nun gut.

Seine Gedanken wanderten zu dieser Straßenhure, die er in der vergangenen Nacht unter der Pier getötet hatte. Zweifellos schlug die rauschende Sturmesbrandung ihren Körper nun gegen die Mole. Dann schweiften seine Gedanken zu dem Seemann ab, den er morgen für dieses Verbrechen zum Tod durch Verbrennen verurteilen würde und der im Augenblick bewusstlos im Rumrausch lag und das Blut einer Frau, die er nie zuvor gesehen hatte, in dunklen, klebrigen Flecken an der Kleidung trug. Es würde ein aufregender Prozess und eine noch aufregendere Verbrennung werden, besonders wenn die Rumdünste noch frisch aus dem Atem des entsetzten Mannes quollen.

Welche Schande, dass er nicht dabei sein würde, um es zu genießen.

Der Seneschall stieß vernehmlich die Luft aus und brachte den anschwellenden Lärm der dunklen Stimmen zum Schweigen, die in den Tiefen seiner Ohren klangen.