»Schon wieder ist uns deine Unzulänglichkeit hinderlich, Ashe«, meinte Achmed.
»Warum kenne ich Euch nicht?«, fragte Ashe den alten Mann und betrachtete eingehend die leuchtenden blauen Augen, das zerfurchte Gesicht und das dichte Haar, das weißer als Salz war. »Ich habe eine Zeit lang den Weisheitsring des Patriarchen getragen und glaubte, er würde mir die Namen all jener enthüllen, die von der Insel gekommen sind und noch leben. Und doch kenne ich Euch nicht – warum nicht?«
Der Wirt lächelte. »Weil mein Name nicht mein eigener ist, Herr«, sagte er freundlich. »Er gehört zu einer Bruderschaft, die schon vor dem Auszug existierte. Meine Treue dieser Bruderschaft gegenüber ist viel älter und stärker als jener Eid, den ich wie alle anderen, die aus Serendair geflohen sind, Eurem Großvater Gwylliam geleistet habe. Mit Verlaub, deshalb habt Ihr keine Macht über mich.« Er beugte sich leicht vor. »Im Gegensatz zu Eurer Frau.«
»Rhapsody?«, fragte Ashe. Seine Stimme war lauter geworden, ohne dass er es gewollt hätte. Achmed trat ihm auf den Fuß, damit er wieder leiser sprach. »Habt Ihr sie gesehen?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nicht seit dem Konzil, Herr.« Seine Augen wurden groß, als er begriff. »Sie ... sie ist doch nicht etwa die Frau, die gesucht wird, oder?«
Die Reisenden sahen einander an; nach einer kurzen Pause nickte Achmed.
Entsetzen erfüllte das Gesicht des alten Mannes. »Gute Götter, nein! Nicht schon wieder. Was ist geschehen?«
»Schon wieder?«, wunderte sich Achmed. »Sag uns, woher du sie kennst.«
Der alte Barney schaute kurz über die Schulter. Als er erkannte, dass in der Taverne die übliche Geschäftigkeit eingekehrt war, drehte er sich wieder um und sagte traurig: »Ich kenne sie aus der alten Welt. Sie war der Lieblingsgast meiner Frau Dee und natürlich auch der meine. Sie hat ihre Musik in meiner Taverne studiert. Immer hat sie einen der Hintertische genommen und auf Pergamentblätter geschrieben. Nie hat sie die geringsten Schwierigkeiten gemacht. Wir haben sie beide geliebt. Wenn sie nicht gewesen wäre, säße ich jetzt nicht hier und könnte mich mit Euch unterhalten.«
»Warum nicht?«, fragte Ashe.
Die Augen des Wirts leuchteten in der Dunkelheit.
»Ich bin sicher, dass es nur ein Zufall war, Herr. Am letzten Tag, als ich sie in der alten Welt gesehen habe, hat sie mir ein Blatt mit Musik zugesteckt, das sie geschrieben hatte, und mir gesagt, das sei mein Name. Wenn ich je einem Troubadour begegnen sollte, müsse er es für mich spielen. Damals war sie sehr in Eile. Sie war auf der Flucht vor einem gefährlichen Mann, also steckte ich das Blatt in meine Schürzentasche und vergaß es. Ich habe sie in der alten Welt nie wieder gesehen. Etwa zwei Wochen später kam ein Bänkelsänger in den Federhut – ich habe den Namen beibehalten, als ich dieses neue Gasthaus gebaut habe -, und ich bat ihn, mir für einen Krug Bier das Lied vorzuspielen, das Rhapsody für mich aufgeschrieben hatte. Es war eine schwierige Melodie, die gut zu mir passte, denn es war ja angeblich mein Name. Ich hatte damals keine Ahnung von lirinischen Benennern und ihren Kräften. Rhapsody war für mich bloß ein süßes Mädel in einer schlimmen Lage gewesen, und die Melodie war angenehm für meine Ohren, also habe ich sie jeden Tag gepfiffen. Irgendwann habe ich es unbewusst getan. Das hat die arme Dee zur Verzweiflung gebracht, möge sie in Frieden im Nachleben ruhen.
Der serenische Krieg kam und ging; meine geliebte Dee wurde alt und trat von dieser Welt in die nächste ein; das Leben ging weiter, Tag für Tag, Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert, und ich schien nicht mehr älter zu werden seit dem Tag, an dem Rhapsody mir dieses Notenblatt ausgehändigt hatte.
Das ist mir aber erst viel später klar geworden. Ich dachte zuerst, ich hätte vielleicht einen lirinischen Vorfahren oder sonst jemanden, der sehr langlebig war. Und dann habe ich an Bord des Schiffes, auf dem ich Serendair verlassen habe, einen lirinischen Benenner getroffen. Er war ein angenehmer Knabe und redete mich mit meinem Namen an, obwohl ich mir sicher war, dass er mich nie zuvor gesehen hatte und meinen Beruf nicht kannte. Woher kennt Ihr meinen Namen?‹, habe ich ihn gefragt. Er lachte und sagte: ›Ihr habt ihn mir selbst genannt, guter Mann. Es ist das Lied, das Ihr andauernd pfeift/
Auf der Reise habe ich ihn gut kennen gelernt – wir beide sind mit der Ersten Flotte gesegelt und in Merithyns Schiffskonvoi gereist – und alles über den Grund für meine Langlebigkeit erfahren. Indem ich jeden Tag meinen Namen gepfiffen habe, habe ich mich in gewisser Weise immer wieder neu geschaffen und in den ›Schwingungszustand‹ – was immer das sein mag – versetzt, in dem ich mich am vorangegangenen Tag befunden hatte.«
Seine Augen leuchteten noch heller in der rauchgeschwängerten Luft der Taverne. »Als wir hier ankamen, hatten wir sie alle – die Unsterblichkeit. Manche haben sie geschätzt, andere haben sie gehasst, aber im Gegensatz zu mir hatten sie bisher nicht das Glück gehabt, schon auf der Insel lange über die natürliche eigene Lebensspanne hinaus gelebt zu haben. Wenn dieses letzte Geschenk Eurer Frau nicht gewesen wäre, Gwydion, hätte ich diesen Ort hier nie erreicht. Und auch wenn ich viele schreckliche Dinge gesehen und Zeiten durchlebt habe, in denen ich mir gewünscht habe, ich sei schon im Nachleben bei meiner Dee, muss ich doch insgesamt sagen, dass es ein unvergleichliches Geschenk war.«
Ashe legte seine Hand auf die des alten Mannes; sie zitterte, und die geschwollenen Knöchel der arthritischen Finger bebten heftig.
»Der Mann, der damals meine Frau verfolgte ...«, sagte er ruhig und versuchte, seine Gefühle im Zaum zu halten, »kanntet Ihr ihn?«
Der alte Barney öffnete die Augen noch weiter. Die blassblaue Iris und die weißen Augäpfel standen in starkem Kontrast zum schwachen Licht in der Taverne.
»Michael, der Wind des Todes«, flüsterte er, als fürchte er sich, den Namen laut auszusprechen. »Ja, ich kannte ihn und habe ihn ein oder zwei Mal gesehen. Warum?«
»Er ist es, der sie jetzt verfolgt – oder sie bereits in seiner Gewalt hat«, sagte Achmed offen.
»Vermutlich ist er auch derjenige, der die Küste in Schutt und Asche legt. Er ist nicht mehr der Wind des Todes, sondern der Wind des Feuers und die Hure eines F’dor-Geistes.«
»Gute Götter«, keuchte der alte Barney und machte ein heiliges Zeichen auf der Stirn. »Nein.«
Ashe verstärkte den Druck auf seine Hand.
»Helft uns«, sagte er knapp. »Ich glaube, Ihr könnt es. Rhapsody und ich haben zu Beginn des Sommers die Prophetin von Yarim besucht, die Seherin der Zukunft. Sie hat eine Prophezeiung von sich gegeben, die zum Teil mit Euch zu tun haben könnte.«
Der alte Mann zitterte noch heftiger. »Manwyn? Manwyn... hat meinen Namen in einer Prophezeiung genannt?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber es scheint so«, sagte Ashe. »Sie sagte Rhapsody, sie solle sich vor der Vergangenheit in Acht nehmen, die danach trachte, sie zu bekommen, sie zu vernichten und ihr zu helfen. Und dann sagte sie: ›Vor langer Zeit ein Versprechen erdacht, vor langer Zeit einen Namen gebracht, vor langer Zeit eine Stimme gelacht – drei Schulden gemacht/«
»Ich ... ich wüsste nicht, dass ich je zuvor in einer Prophezeiung erwähnt worden bin«, sagte der alte Wirt nervös. »Eure ... Großtante jagt mir Angst ein. Ich habe ihre Verrücktheit vor langer Zeit auf dem Konzil beobachtet. Der Gedanke, sie könne mich durch ihren Sextanten gesehen haben, ist schrecklich, Herr. Ich bin nur ein einfacher Wirt und ein sehr alter Mann.«
»Wollt Ihr meiner Frau helfen?«, fragte Ashe verzweifelt. »Ich glaube, Ihr seid die ›Vergangenheit‹, die Manwyn erwähnte.«
»Ja, natürlich«, flüsterte Barney. »Denn obwohl sie verrückt ist, sind die Worte der Seherin wahr. Es wurde ein Name gebracht, und zwar der meine, wie ich Euch gesagt habe, und deshalb lebe ich noch. Ich stehe tief in Rhapsodys Schuld und will sie sehr gern begleichen. Ich weiß bloß nicht...«