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»Übrigens willkommen in Traeg«, sagte er und hielt einen gekrümmten Arm hoch, um sich vor dem Wind zu schützen. »Das ist unser Anspruch an die Geschichte: die Heimat des Windes in diesem Teil der Welt zu sein, oder wenigstens der Ort, an dem er sich so wohl fühlt, dass er lange hier bleibt, ohne nachzulassen.«

Wie passend, dachte Ashe, als sie dem Wirt über die lose gepflasterte Straße und eine sandige Erhebung folgten. Der große Blutsverwandte, ein Bruder des Windes, macht die Gegend um Traeg zu seiner Heimat.

Barney hielt ein Dutzend Schritte vor dem Rand der Erhebung an und deutete auf einen felsigen Pfad, der hinunter zum Strand führte.

»Wenn Ihr ihn finden wollt, dann am wahrscheinlichsten dort unten, meine Herren«, sagte er und drückte sich den Hut tiefer ins Gesicht. »Manchmal kann man ihn bei den Wellenbrechern oder an den Klippen sehen, doch oft bleibt er tagelang in seiner Festung und beschäftigt sich mit irgendetwas – was alte Helden halt so zu tun pflegen. Aber seid vorsichtig. In dieser Gegend gibt es Taugenichtse und Zugvögel, Bettler und Seeleute, die von ihren Schiffen geworfen wurden, wenn die Kapitäne unseren Hafen anliefen, und denen die Rückkehr an Bord nicht erlaubt wurde. Es ist ein zerlumpter Haufen mit Verzweiflung in den Augen. Das macht der Hunger. Ich habe ihnen manchmal etwas zu essen gebracht, die Reste des Tages, bis sie mich einmal überfallen und mich geschlagen haben. Seitdem halte ich mich vom Strand fern. Schaut immer hinter Euch.«

»Vielen Dank«, sagte Ashe und streckte dem alten Mann die Hand entgegen; die andere legte er ihm auf den Arm. »Hierfür und für das, was Ihr vor vielen Jahren für Rhapsody getan habt. Wenn ich sie finde, werde ich sie herbringen, damit sie Euch besuchen und Erinnerungen mit Euch austauschen kann.«

Der alte Mann lächelte traurig, sagte aber nichts.

Er sah zu, wie die beiden Herrscher über den Pfad bis zum Strand gingen; dann schritt er an den Rand der Düne und schaute hinunter.

Er sah sie in der Ferne, wie sie durch den Sand auf das Meer zumarschierten und die Küstenlinie hinauf und hinunter schauten, während sie vom heftigen Wind gezaust wurden.

Dann schaute Barney auf den Strand unmittelbar unter der Düne. Die Flut kam herein; die Wellen krochen näher und rollten inmitten eines Wirbels aus Windgepeitschter Gischt. Im feuchten Sand am Rand des Wassers befand sich eine seltsame Zeichnung, ein riesiges Bild aus einfachen Linien, das Barneys Auffassung zufolge einen Schädel darstellte, oder vielleicht war es ein Kopf, dessen Augen weit voneinander entfernt in einem flachen, weichen Gesicht steckten. Der Mund unter der platten Nase fehlte.

Als ob die Lippen miteinander verschmolzen wären.

Auf der Basquela vor der nördlichen küste

Der Seneschall legte das Fernglas an die Augen und überblickte die schwarze Küstenlinie aus Lavagestein. Er beobachtete, wie die Brecher gegen die zerklüfteten Felsen unterhalb des Vorsprungs schlugen.

Dieser Anblick suchte ihn nicht nur in den wachen Stunden heim, sondern auch in seinen Träumen. Als Wirt eines Dämons brauchte Michael nicht mehr viel Schlaf, sondern verbrachte die wenigen Stunden in einer Art traumähnlicher Meditation, während die Stimme des F’dor wie ein endloses, knisterndes Feuer in seinem Kopf dröhnte.

Während jener Stunden erschien der Felsvorsprung vor seinem inneren Auge. Die schartige Klippe, die spitz aus dem felsendurchsetzten Wasser herausragte, schien zu lachen, als die grausame Flut über sie hinwegrauschte.

Sie ist hier und versteckt sich vor dir, verhöhnte sie Michael. Die Worte tummelten sich in seinem Kopf und brannten wie Säure, bis der Seneschall nicht mehr wusste, ob sie eine Art von Prophezeiung, der Spott seines erbosten Gastes oder sein eigener Selbstzweifel waren, der immer schon lärmend an ihm gehangen hatte und an seinem Selbstvertrauen nagte.

Er beobachtete die Felsen lange und hielt Ausschau nach jeglicher Art von Lebenszeichen, doch er sah nichts als das endlose Anbranden der Wellen sowie die kochende Gischt aus Salzwasser und Schaum. Dann kam ihm ein Gedanke. Es war, als ob er von einem weniger böswilligen Geist als dem käme, der in ihm lebte.

Vielleicht gibt es eine Höhle zwischen all diesen Felsen und hinter der Tide, dachte er, auch wenn sein Verstand die Möglichkeit verwarf, sie könne darin bis heute überlebt haben. Er und seine Männer hatten viele Spalten in den aufgetürmten Felswänden entlang der Küste gesehen, aber sie lagen so tief, dass schon die kleinste Flut sie überspülte. Aber hier waren die Klippen höher als anderswo, der Wind war stärker, und es schien ihm, als sei es einen Versuch wert, die Felsen nach einer Höhle abzusuchen.

»Quinn!«, rief er nach seinem Kapitän.

»Ja, Herr?«, antwortete Quinn mit Erschöpfung in der Stimme. Er hatte kaum eine Nacht schlafen können, seit er zum Kapitän gemacht worden war, und betete täglich darum, dass der Seneschall endlich aufgab und den Heimweg nach Argaut antrat.

»Bring uns zurück. Ich will morgen Anker werfen und übermorgen wieder an Land gehen.«

»Ja, Herr«, sagte der Seemann müde.

Der Seneschall wandte sich an seinen Vogt. »Fergus, wähle zwei Männer aus der verbliebenen Mannschaft aus und hol ein starkes Seil. Ich will, dass sie diese Klippen durchsuchen und nachsehen, ob sie sich in einer Höhle versteckt hält.«

Der Gesichtsausdruck des Vogts blieb gelassen. »Wie Ihr befehlt, Herr.«

»Du und die Männer werden mich übermorgen begleiten. Wenn wir sie nicht finden, wird es für alle Beteiligten schreckliche Auswirkungen haben.«

»Ja, Herr.«

Der Seneschall trat näher an den Vogt heran und flüsterte ihm leise ins Ohr: »Sogar für dich, Fergus.«

Der Vogt seufzte. »Ja, Herr.« Er hatte nichts anderes erwartet.

47

Traeg

Zwei Stunden lang warteten die Männer im beißenden Wind und schlenderten den Strand entlang der Wasserlinie auf und ab.

Nach einer Stunde ging die Sonne allmählich unter. Da es Sommer war, stand sie noch recht hoch am Himmel, und der Nachmittag war recht hell, doch das Licht hatte sich zum dunstigen Gold der Späte gewandelt, und mit dieser Wandlung kamen auch die menschlichen Ratten.

Wo sich der abgerissene Haufen der Wanderer und Strandläufer bei Tage versteckt gehalten hatte, blieb ein Rätsel. Ashe glaubte, dass seine Drachensinne sie in und zwischen den Felsen aufgespürt hatten, in flachen Vertiefungen und Gezeitenhöhlen, wo sie während der Hitze des Tages schlafen konnten, solange Ebbe herrschte. Nun, da die Flut stieg, kamen sie aus ihren Felsenbehausungen. Einige machten sich auf den Weg zu den Hafenanlagen, andere taumelten hinaus auf die Sandbank und suchten sie nach den Überresten des Tagesfanges ab, der ins Wasser zurückgeworfen worden war. Mit jedem Atemzug wurde Achmed griesgrämiger. Wasser hasste er in jeglicher Gestalt; es verbarg die Schwingungen der Welt, für die er so empfänglich war. Am Windumtosten Meer war es am schlimmsten. Der Aufruhr der brandenden Dünung machte es ihm nicht nur unmöglich, sich auf die Zeichen in der Luft zu konzentrieren, die er üblicherweise spürte, sondern er verstärkte die Kakophonie noch, die gegen seine empfindliche Haut schlug.

»Früher bin ich ans Meer gegangen, um meine Cwellan-Schüsse an die Luftströmungen anzupassen«, sagte er zu Ashe bei dem Feuer, das sie entfacht hatten, nachdem sich eine Horde abgerissener Frauen ihnen genähert und Almosen gefordert hatte. »Ich bin ein wenig eingerostet. Vielleicht sollte ich ein paar Zielübungen machen.«

Ashe erwiderte nichts darauf. Er warf eine Hand voll Münzen den Frauen entgegen, die danach im Sand scharrten und schließlich schwatzend über den Pfad in Richtung des verwüsteten Dorfes davonliefen.

»Hör auf damit«, meinte Achmed wütend. »Sie kommen dann bloß mit ihren Freunden und all der leprösen Brut zurück, die hier oben gelauert hat.«

»Das sind Seewitwen«, erklärte Ashe milde. Allmählich brannten ihm die Augen vom langen Starren auf den Küstenstreifen. »Frauen, deren Männer als Matrosen oder Fischer die Meere befahren haben und nicht mehr heimgekehrt sind. Die ganze traurige Geschichte meiner Familie begann damit, dass es Merithyn nicht schaffte, zu Elynsynos zurückzukommen. Almosen für hungernde Witwen zu geben ist das Geringste, was ich tun kann.«