»Halt. Wer bist du?«
»Habt Ihr mir nicht soeben selbst gesagt, wer meine Vorfahren sind?«, fragte Ashe, der immer verzweifelter wurde und nicht mehr wusste, wie er die Fragen des Mannes beantworten sollte, ohne ihn zu beleidigen. Schließlich gab er es auf, denn er erkannte, dass es ihm unmöglich gelingen konnte.
»Ich kann dein Blut riechen«, sagte MacQuieth und schaute ihn finster an. »Das Schwert hat es geschmeckt. Das Meer kennt ihn, und an der Art seiner Bewegungen erkenne ich, wer ihn ausgebildet hat. Ich weiß nicht, wie die Welt nun aussieht; meistens kümmere ich mich nicht darum. Wenn ein Mann eine Million Tage erlebt hat, fließen sie gnädig ineinander. Aber wenn ich die Nadel im Heuhaufen, die Oase in der Wüste, die Insel, den Mörder finden soll, dann muss ich den Wind kennen und wissen, wie viele Jahre vergangen sind und ob etwas eine neue Straße oder eine alte Mauer ist. Als meine Sinne noch jung waren und brannten, konnte ich einen Tümmler oder einen Falken aufspüren.« Er deutete auf Achmed.
»Ich war in der Lage, ihn aufzuspüren, bevor es hieß, er sei gestorben. Sagt mir, was ich wirklich wissen muss.«
Ashe drückte die Schultern durch und spürte, wie die Weisheit durch sein Blut floss.
»Ich bin Gwydion ap Llauron ap Gwylliam, tuatha d’Anwyn o Manosse«, sagte er. »Der gewählte cymrische Herrscher. Vor langer Zeit, vor dem Exodus und dem Beginn des serenischen Krieges, in dem Ihr für das Überleben der Insel gekämpft habt, kam ein junges Mädchen nach Ostend und fragte, ob Ihr mich gesehen habt. Ihr hattet es nicht und teiltet ihr dies mit – freundlich, wie sie sagte. Falls sie noch unter den Lebenden weilt, könnte sie sich in den Klauen des Windes des Todes, des Anti-Blutsbruders befinden – in den Fängen dessen, der das Element der Luft dazu benutzt, Heere zu vernichten und Soldaten zu ermorden, statt ihnen in Zeiten der Not beizustehen. Er ist der Wirt eines Dämonengeistes, doch es gab eine seltsame Veränderung des gewöhnlichen schmarotzerhaften Verhältnisses. Anscheinend war seine abscheuliche Persönlichkeit so stark und so böse, dass sie sich nicht dem Willen des Ungeheuers gebeugt hat, nicht von ihm verschlungen wurde, sondern mit ihr im selben Körper zusammenlebt. Daher sind ihm seine mörderische Veranlagung und seine Verderbtheit geblieben, die Ihr von Eurem Kampf mit ihm her kennt, doch sie sind nun noch stärker geworden.«
»Ich habe nicht mit ihm gekämpft«, sagte der alte Soldat, wandte sich ab und ging den Strand zur Klippenwand hoch. »Ich habe gegen Tsoltan, seinen Meister, gekämpft. Michael ist fortgelaufen. Wenn er Manns genug gewesen wäre und gekämpft hätte, müsstet ihr ihn jetzt nicht suchen.«
Der Wind heulte, während die beiden Herrscher dem alten Mann um einen Felsvorsprung und Haufen aus Treibholz folgten.
»Was habt Ihr in den Sand gezeichnet?«, fragte Ashe, der sich anstrengen musste, mit dem alten Mann Schritt zu halten.
MacQuieth zuckte die Schultern. »Was immer das Meer mir erzählt«, sagte er nur. An der Nordseite einer ausladenden Felsformation erkannten sie bald darauf eine kleine Hütte, die wohl noch nie einen Besucher gesehen hatte. Vor ihr stand ein zerbeulter Schild, der zu einem Auffanggerät für Süßwasser umgewandelt worden war.
Der alte Held verschwand in der felsigen Einfriedung und erschien einen Augenblick später mit einem Diamantenbesetzten Hochzeitsring, den er sich an den kleinen Finger steckte.
»Habt ihr Pferde?«, fragte er, während er den Ring an seiner Hand betrachtete.
»Ja«, sagte Achmed. »Am Steilufer.«
Ohne ein weiteres Wort ging MacQuieth auf den Pfad zu, der auf die Anhöhe führte. Ashe schaute über die Schulter nach Westen in die rote Sonne, die knapp über dem Horizont schwebte und bereit war, sich in die graue, rollende See zu stürzen.
»Wünscht Ihr die Vesper zu singen, Gevatter – das Requiem für die Sonne?«, fragte er ehrerbietig auf Lirinisch.
MacQuieth blieb plötzlich stehen.
»Nein«, sagte er und ging dann weiter den Pfad zum Dorf hinauf. »Ich erinnere mich nicht mehr daran.«
49
Auf dem Hügel warteten am Rande des Dorfes vier Pferde. Drei waren gesattelt, eines mit Proviant beladen.
Die gesunde Farbe, die MacQuieths Haut hatte, als er das Schwert in der Hand hielt, wich allmählich wieder von ihm. Je weiter er sich von Wasser und Waffe entfernte, desto grauer wurde er – zuerst die Haare, dann das Gesicht, schließlich die Augen. Als sie die Pferde erreicht hatten, sah er abermals gebrechlich aus.
Doch sein Wille schien noch immer so stark zu sein wie zuvor. Er schaute die Pferde kurz an, redete in einer seltsamen Sprache mit ihnen und wählte dann jenes, auf das Ashe bereits seine Ausrüstung geschnallt hatte. MacQuieth warf sie unsanft auf den Boden.
»Barney hat das falsche Packpferd gewählt«, sagte er. Der Wind peitschte gleichzeitig durch seine Haare und durch die Mähne des Pferdes. »Dieses Tier ist klüger als das Leittier. Das Leittier ist dumm. Es könnte besser mit dem Hintern als mit dem Kopf führen.« Er bestieg das Pferd, das er ausgewählt hatte, mit der Leichtigkeit und Anmut eines jungen Mannes. »Muss ein cymrisches Pferd sein. Werde es wohl ›Gwylliam‹ nennen.«
Die beiden Herrscher lächelten gezwungen.
»Vielleicht nur das Hinterteil«, meinte MacQuieth.
Das waren die letzten Worte, die der Held an diesem Tag von sich gab. Er drehte den Kopf in den Wind und lauschte wie auf den Ruf eines Blutsverwandten. Dann schnalzte er dem Pferd zu und ritt nach Norden über die Küstenstraße. Ob die beiden anderen ihm folgten, schien ihm gleichgültig zu sein.
Achmed beobachtete diese Jagd mit großer Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zu seiner Methode, Herzschläge aufzuspüren und sich auf eine besondere Spur zu konzentrieren, schien MacQuieth auf das zu achten, was nicht da war, und in den Windschatten nach einem Geist zu suchen, der das Element der Luft dazu benutzte, sich darin einzuhüllen und vor gewöhnlichen Blicken und Achmeds und Ashes außerordentlichen Fähigkeiten zu verbergen.
Sie flogen über den Boden; Achmed und Ashe schauten sich immer wieder erstaunt an. Sie waren verblüfft von dem Alter ihres Gefährten, von der Last seiner Jahre und davon, dass er tatsächlich so schnell reiten konnte, wie die Legenden besagten. Doch die größte Quelle ihrer Verwunderung war zweifellos der Umstand, dass sie ihn überhaupt gefunden hatten.
Sie ritten beinahe die ganze Nacht hindurch und hielten schließlich an einer geschützten Stelle an, um zu schlafen und Wache zu halten.
»Der Wind, in dem er sich verbirgt, befindet sich über dem Meer, aber er bewegt sich«, hatte der alte Krieger gesagt, bevor er sich in einen Schatten legte, den das nächtliche Lagerfeuer warf. Die beiden Herrscher saßen bis in die frühen Morgenstunden Wache, beobachteten die Küste und lauschten dem Anbranden der schwarzen Wellen gegen den Strand unter ihnen. Es lag ein Kreischen im Wind, der über die Felsvorsprünge blies, auf denen sie lagerten; es klang wie die Warnung vor etwas Schrecklichem.
Als die Mitternacht schon dem nächsten Tag wich, stand Ashe endlich auf und streckte sich.
»Ich gehe schlafen«, sagte er und hob die Arme gen Himmel, um seine schmerzenden Muskeln zu lockern. »Morgen steht uns ein weiterer langer Ritt bevor.«
Achmed starrte unentwegt in das Feuer.
»Setz dich noch einen Moment«, sagte er still. »Ich möchte mich dafür revanchieren, dass du mir heute das Leben gerettet hast.«
Der Herr der Cymrer holte tief Luft und setzte sich wieder.
»Rhapsody lebt«, sagte der Bolg-König. »Ich habe ihren Herzschlag im Meer gehört.«
Ashe richtete sich auf. »Bist du sicher? Sie lebt?«
Achmed runzelte die Stirn. »Ich war mir sicher. Ich kann natürlich nicht sagen, was seitdem geschehen ist. Aber als ich unter Wasser war, während du versucht hast, zu mir zu kommen, habe ich ihn gehört – unmöglich, die Entfernung in diesem Götterverdammten Wasser zu schätzen. Ich hätte nie gedacht, dass es mir möglich ist, ihn durch dieses verfluchte Element zu hören. Früher ist es für mich immer eine Barriere gewesen. Vielleicht sollte ich ab jetzt MacQuieth immer bitten, auf meinem Kopf zu stehen, wenn ich nach jemandem suche.«