Der Mann am Rande des Vorsprungs schaute ihn entsetzt an, griff dann an seine Seite und zog seine Waffe.
Tysterisk kam mit einem scharfen Luftstoß aus der Scheide. Es zischte und heulte wie eine Bö um einen Berggipfel.
Achmed zog die Hand zusammen und wickelte sich die metaphysischen Fäden um die Faust. Ashe sah das Signal und trat aus dem Nebel, der sowohl aus seinem Mantel aus auch aus der regenschweren Luft strömte.
»Wo ist meine Frau?«, fragte er mit seiner vieltönigen Drachenstimme – Sopran, Alt, Tenor und Bass. Sie zitterte durch den Fels des Vorsprungs, auf dem sie standen.
Michael lächelte, drehte sich um und deutete nach Südwesten auf den Schatten eines Schiffes in den Wellen.
»Sie ist gerade meiner Mannschaft zu Diensten«, sagte er mit breiter werdendem Grinsen. »Sie nehmen sie abwechselnd. Inzwischen ist sie bestimmt schon bei der dritten oder vierten Runde. Ich selbst habe sie sieben Mal hintereinander genommen. Das war in den alten Zeiten. Und so wird es wieder sein. Und wieder. Und wieder.«
Wut pulste durch Ashe. Er trat einen Schritt nach vorn, blieb stehen und wartete darauf, dass Achmeds Bann wirkte.
Achmeds Arm zuckte hoch und zog die Fäden des Windes mit einer ruckartigen Bewegung fest. Michaels Augen weiteten sich. Selbst aus der Ferne sahen die Männer, wie sie in dem grauen Nebel leuchteten.
Sein Körper taumelte ein wenig in Achmeds Richtung.
Das qualvolle Lied des Dhrakiers wurde lauter.
Als sich Achmed langsam dem Rand des Vorsprungs näherte und auf dem unsichtbaren Windgewebe balancierte, bemerkte er, wie Ashe den Griff um Kirsdarke verlagerte.
Michael stand wie vom Donner gerührt da, sah zu, wie sie näher kamen, unbeweglich, das Schwert in der Hand.
Als sie nur noch wenige Schritte von dem Seneschall entfernt waren, zog Achmed das Windnetz enger.
Michaels Arm zuckte zurück.
Ashe glitt näher, hob Kirsdarke, dessen Klinge in blauer und weißer Gischt wogte, und zielte auf die Kehle des Seneschalls.
Mit einem heftigen Stoß durchschlug Michael die Luft vor dem Dhrakier und trennte die Windfäden durch.
Hrekin! Das hätte ich wissen müssen, dachte Achmed, während er verzweifelt versuchte, die zerschnittenen Fäden des Banns einzusammeln.
Michael machte eine wilde Geste, und Achmed spürte, wie ihm die Luft aus dem Körper getrieben wurde. Sein seltsamer Gesang brach mitten im Ton ab.
Eine Windbö explodierte über ihm, blies ihn in die Luft, trieb ihn über den Rand des Vorsprungs und warf ihn weit hinaus ins Meer.
53
Ashe wich entsetzt zurück, als der Körper des Bolg-Königs über den Rand der Klippe flog. Er rannte die wenigen Schritte bis zur Spitze des Vorsprungs und deutete mit der Schwertspitze auf die tosende Brandung. Mit seinem eigenen elementaren Band langte er in das Meer hinein und befahl ihm, eine Welle hervorzubringen, die den Dhrakier auffing und von den Felsen forthob. Das würde ihn zwar vor dem Tod durch einen Anprall gegen die Klippen schützen, nicht aber vor dem Ertrinken. Michael warf den Kopf zurück und lachte in den Wind hinein. Die Brise nahm den Doppelton seiner Stimme auf – das fröhliche Glucksen des Mannes und das harsche, gackernde Kreischen des Dämons.
»Das habt ihr im Spaß gemacht, nicht wahr?«, sagte er zu Ashe, der verzweifelt auf die Wellen starrte und nach Achmeds schwarzen Gewändern suchte. »Habt ihr wirklich geglaubt, ihr könnt mich mit einem Bannritual einfangen? Ich befehle dem Wind, du Narr. Ich bin der Wind, der Wind des Feuers, der Wind des Todes.« Seine Stimme wurde rauer, als der Dämon hervorkam und sich die blauen Augen an den Rändern röteten.
»Ich werde deine Seele essen«, sagte er, während er sich Ashe näherte. Die Klinge seiner Waffe war nun vollständig sichtbar; sie brannte in schwarzem Feuer. »Ich werde dich aber noch eine Weile am Leben erhalten. Heute Nacht kommst du mit mir auf mein Schiff. Bevor dich meine Mannschaft vergewaltigt und kielholt, werde ich dir noch einen Gefallen erweisen. Du darfst zusehen, wie ich deine liebliche Frau nehme, die jetzt mein Spielzeug ist.«
Ashe packte Kirsdarkes Griff und atmete flach.
MacQuieths Stimme ertönte wie durch seine Handfläche.
Geh. Rette ihn.
Er drehte sich um und schaute hinter sich. Der alte Held stand aufrecht da; sein Körper hatte wie unter der Macht des Elementarschwertes an Masse gewonnen.
Überlass ihn mir, hörte Ashe in seinem Kopf. Es war, als ob die Worte durch Kirsdarkes Griff in seine Hand, sein Herz und sein Hirn drangen. Sie waren nicht leichthin ausgesprochen, sondern mit feierlichem Ernst. Es war der Befehl eines Blutsverwandten, seines Blutsverwandten, seines Ahnen. Der Befehl des Kirsdarkenvar.
Wenn du dich noch an etwas über mich erinnerst, dann an dies: Ich habe nie eine Aufgabe, die ich allein unternommen habe, unbeendet gelassen.
Ashe wandte sich an MacQuieth. Er wollte ihm seine Waffe anbieten und hielt sie ihm mit dem Griff voran entgegen.
Der alte Mann schüttelte den Kopf. Ashe hörte die Stimme ein letztes Mal.
Er mag dem Wind befehlen, aber ich bin das Schwert.
Er rief sich die Worte in die Erinnerung zurück, die der Soldat in der vergangenen Nacht unter dem zerfallenden Dach der Hütte gesprochen hatte.
Das Meer ist das einzige Element, das immer noch uns alle berührt. Die Erde ist zerbrochen, der Wind ist verloren, das Feuer ist gelöscht. Das Wasser aber berührt alles.
Kirsdarke ist unser Schwert.
Ashe packte das Schwert fest. Die ungeheuren Machtströme flössen durch seinen Arm und veränderten seine Körpermasse. Das Wasser in ihm wurde zu dunstiger Meeresgischt. Mit letzter Kraft verneigte er sich leicht vor seinem Vorfahren und folgte dann Achmed mit einem weiten Sprung ins Meer.
Rhapsody trieb mit dem Rücken gegen die Wand der Gezeitenhöhle. Sie hielt sich gerade an dem Floß aus Lavagestein fest, als sie die Stimmen von Männern über ihr hörte.
»Höhle hier unten, Herr ...«
Gute Götter, nein, dachte sie. Er hat mich gefunden.
Sie packte das Floß fester, schwamm an den Eingang der Höhle und schaute mit umwölktem Blick auf das wirbelnde Wasser dahinter. Es herrschte Ebbe. Wenn sie nun herauskam, würde man sie sehen, aber wenn sie blieb ...
Es gab keine andere Möglichkeit.
Komm, mein Kind, dachte sie, holte tief Luft und griff mit schlüpfriger Hand um den äußeren Rand der Höhle. Jetzt oder nie.
Mit aller Kraft schob sie die Matte aus Steinen vor sich her, tauchte unter den Wellen hindurch und drückte sich mit den Beinen von der Wand ab.
Die Strömung erfasste sie und zog sie hinunter. Sie wirbelte in einem Strudel aus Gischt und Fels umher. Sofort wurde ihr die Luft aus der Lunge gepresst. Sie bemühte sich, nicht zu atmen. Ihr Körper schlug gegen die Vorsprünge unter der Wasseroberfläche.
Sie hielt sich an der Matte fest, während sie hin und her geschleudert wurde. Die Schwimmkraft der Vulkansteine war in der einsetzenden überwältigenden Flut nutzlos.
Rhapsody wurde plötzlich von einer Woge angehoben und ins offene Meer geschleudert. Vage bemerkte sie Leiber, die entweder ins Meer fielen oder von der Klippenwand über ihr herabhingen, doch jeder klare Gedanke ging im wahnsinnigen Grollen der Wellen unter.
Der Seneschall sah erstaunt zu, wie der zweite Mann, der ihn bedroht hatte, von der Klippe sprang. Er wandte sich dem Letzten zu, der schmächtigen Gestalt. Eigentlich hatte er erwartet, einen dritten Meister zu sehen, das letzte Aufgebot dieses Landes gegen ihn. Verblüfft stellte er jedoch fest, dass die Gestalt nun gesünder, größer und breiter als vorher wirkte. Doch sie war immer noch nichts anderes als ein alter Mann in zerlumpter Kleidung, der mit einem schwachen Lächeln in dem zerfurchten Gesicht näher kam. Mit einer tiefen Verbeugung trat Michael beiseite und deutete auf den Rand der Klippe.