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»Hol einen Heiler!«, kreischte Shaene. Angstschweiß bedeckte seine Haut, und seine Hände zitterten. Rhur verschwand. Shaene taumelte zum Nachttisch und schüttete Wasser aus dem Handwaschbecken auf ein Handtuch, das gefaltet daneben lag. Damit eilte er zurück zu Omets Bett und legte das nasse Tuch sanft über die Stirn des Jungen. Das Handtuch wurde rasch warm.

Shaene ergriff die heiße, schlaffe Hand, die auf dem Laken lag, und sang mechanisch die Gebete, an die er sich aus der Jugend erinnerte, als er zum letzten Mal am Bett eines jungen Mannes gewacht hatte. Ganz zu Beginn seiner Lehrzeit hatte sein älterer Bruder Siyeth Scharlach bekommen und war vor Shaenes Augen im Bett gestorben. Dieser Anblick und die Gerüche hatte er nie vergessen können. Im Vergleich zu Siyeth sah Omet noch schlechter aus.

Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als Rhur mit Krinsel, der Hebamme, zurückkehrte, die das Oberhaupt der Bolg-Heiler war. Mehrere Assistenten begleiteten sie. Sie kümmerten sich fieberhaft um Omet, doch er trieb immer näher an den Rand des Todes.

»Na los, mein Junge, na los«, murmelte Shaene und streichelte machtlos die Stirn des jungen Mannes. Er wandte sich zuerst an Krinsel, die den Kopf schüttelte, dann an Rhur, der wie immer mit unbeweglicher Miene zusah, doch in seinem Blick lag tiefe Besorgnis.

Plötzlich richtete sich Shaene auf, als ob ihn ein Schlag getroffen habe.

»Rhur – der Turm! Wir können ihn in den Turm bringen!«

Der Firbolg-Handwerker runzelte die Stirn. »Warum?«

»Erinnerst du dich an das Rad? Ich glaube, Sandy sagte, dass der Turm und das Rad zusammen Heilkräfte haben.«

Rhur schüttelte den Kopf. »Wir wissen nicht, wie man es anwendet, Shaene«, sagte er still in der gemeinsamen Sprache, die einen harten bolgischen Akzent hatte.

»Es kann ihm doch nicht mehr schaden, oder? Wir legen ihn unter die Glasdecke und setzen das Rad ein.« Die Verzweiflung in Shaenes Stimme wuchs. »Wir können doch nicht einfach hier stehen bleiben, während das Fieber ihn verbrennt!« Er deutete auf die Heiler. »Schick sie zu den Gesellen und Lehrlingen und sag ihnen, sie sollen die hölzerne Verschalung von der Kuppel nehmen. Wir beide machen eine Bahre aus seinem Bett und tragen ihn dorthin.«

Krinsel und Rhur tauschten schweigend einen Blick und ein paar Worte in ihrer Muttersprache und nickten schließlich.

Shaene seufzte auf. »Also denn.« Er streichelte wieder über Omets Arm. »Halte durch, Junge. Vielleicht werden all deine Mühen doch noch belohnt.«

56

Esten schaute die Treppe hinunter und überlegte, was sie nun tun sollte.

Am Ende dieser Treppe muss etwas sehr Wichtiges liegen, dachte sie und drückte gegen die Tasche in ihrem Hemd, in welcher sich der Schlüssel befand. Im Schlafgemach des Königs befindet sich nichts, das eine solch strenge Bewachung, eine derart gut verborgene Tür oder solch komplizierte Schlösser erforderte. Jeder Dieb, der hier eindringt, wäre bitter enttäuscht.

Aber da war dieser schräg in die Erde hinein reichende Tunnel, dessen Eingang am Fußende des königlichen Bettes versteckt war. Wenn Achmed sich im Berg befand, war er selbst die letzte Verteidigungsbastion.

Dieser Versuchung war nur schwer zu widerstehen.

Doch Estens Zeit im Berg hatte sie gelehrt, dass solche Tunnel unendlich tief sein und in die Irre oder zu anderen abzweigenden Tunneln führen konnten. Sie waren geschaffen, um zu verwirren und den Reisenden vom rechten Weg abzubringen. Möglicherweise wäre dies eine Reise, für die sie nicht genügend vorbereitet war. Sie hatte keine Zeit, dieses Wagnis einzugehen.

Ein Prickeln fuhr ihr über die Haut. Sie verfluchte ihr Zittern, denn es zeigte eine Schwäche an, die sie nicht ertrug. Der Tunnel erinnerte sie an den, welchen sie in Yarim unter der Entudenin gegraben hatte – oder, genauer gesagt, ihre Sklavenjungen hatten ihn gegraben. Sie hatte zwar nichts dagegen gehabt, die Arbeit zu überwachen und die Richtung gegebenenfalls zu korrigieren, doch die Zeit, in der sie sich unter der Erde wohl fühlte, war sehr begrenzt.

Es war schwierig für sie gewesen, in den Bergen von Ylorc zu leben, doch sie hatte es ertragen können. Esten war an Hintergassen, dunkle Gebäude und Kanäle unter Stadtstraßen gewöhnt – an all die Schatten, in denen ihre Leute verborgen lauerten und darauf warteten hervorzukommen, um sich dann rasch wieder mit der Finsternis zu vereinigen. Die Tunnel, Passagen und Räume von Ylorc erinnerten sie an diese Gassen und Kanäle; sie waren schließlich im cymrischen Zeitalter für Menschen erbaut worden.

Doch dieser Tunnel war anders. Wenn sie ihn betreten wollte, brauchte sie Vorräte und Licht. Sie schloss die Truhe und legte behutsam die Schlösser wieder vor, wobei sie peinlich genau die Reihenfolge einhielt, in der sie sie geöffnet hatte.

Esten schlüpfte aus der Geheimtür und verschloss sie soeben, als ein großer Schatten am Ende des Ganges erschien.

Sie schaute auf und zuckte zusammen, als sie dort einen Riesen sah, einen viehischen Mann, der mindestens siebeneinhalb Fuß groß war. Ein Köcher mit Waffen hing ihm an einem Gurt vom Rücken. Seine Haut hatte die Farbe alter Prellungen. Das pferdebraune Haar und der Bart tropften vor Regenwasser.

Sein breites, mit Fangzähnen bewehrtes Gesicht nahm einen entsetzlich düsteren Ausdruck an.

»Wer bist du?«, wollte er wissen. Seine donnernde Stimme hallte von den Basaltwänden wider. »Und was machst du hier?«

Estens Verstand war von jahrelangen ruchlosen Geschäften und Situationen auf des Messers Schneide geschärft. Sie dachte rasch nach, verschränkte die Arme vor der Brust und erwiderte seinen finsteren Blick.

»Mein Name ist Theophila, Grunthor«, sagte sie und hoffte, es gebe nur einen Mann, auf den die Beschreibung passte, die der Bolg-König ihr gegeben hatte. »Und ich bin hier, weil ich jetzt hier schlafe.«

Wut und Ärger schmolzen zu einem Ausdruck des Erstaunens und schließlich der Verlegenheit.

»Tut mir wirklich Leid«, sagte der gewaltige Sergeant einfältig und fuhr sich mit der mächtigen Pranke durch das tropfende Haar. »Seine Majestät hat Euch mir gegenüber natürlich erwähnt. Wusste bloß nicht, dass Ihr, äh ...«

»Mit ihm schlaft?«, sagte sie neckisch und stellte sich entspannter hin. Doch damit wollte sie nur die Bewegung verbergen, die sie ausführen musste, um ihre Waffe zu ziehen. »Gut. Er hat mir versprochen, diskret zu sein.«

Grunthor räusperte sich unbeholfen.

»Noch mal Entschuldigung«, murmelte er, und als er in ihrem Blick weder Wut noch das Verlangen nach Vergeltung bemerkte, grinste er breit. »Seine Majestät hat mich gebeten, sicherzustellen, dass Ihr alles habt, was Ihr braucht. Wie wär’s, wenn wir in die Messe gehen und was futtern? Da können wir uns besser kennen lernen.« Er deutete in den Versorgungstunnel, hinter dem der Speisesaal der Soldaten lag.

Dafür erhielt er ein strahlendes Lächeln.

»Das wäre schön«, sagte sie nur und ging ihm entgegen, als er sich in Richtung des Versorgungstunnels wandte. Sie verbarg die Klinge in ihrer Handfläche.

Vollkommen, dachte sie. So ein großes Ziel, und ich kann einen sauberen Schuss abgeben.

Sie wurde ein ganz klein wenig schneller, hielt die Klinge mit der Spitze nach unten und hob sie, während sie allmählich in Schussweite kam. Sie beobachtete die Bewegungen seines weichen Lederwamses über dem verwundbaren Rücken.

Ihre Augen verengten sich leicht, als sie sich konzentrierte und auf die zuckenden Muskeln in seinem Rücken zielte.

Sie regten sich stärker, als sie erwartet hatte. Plötzlich wirbelte Grunthor herum und hielt ein großes Schwert in der Hand, das sie ihn nicht ziehen gesehen hatte. Mit einer fließenden, anmutigen Bewegung trennte er damit ihren Kopf säuberlich von den Schultern.

Er war schneller gewesen, als jemand von solcher Größe sich je bewegen konnte. Estens dunklen, leuchtenden Augen blieb gerade noch genug Zeit, sich in Entsetzen weit zu öffnen, bevor ihr Kopf von den Schultern sackte. Ihr Körper fiel nach vorn auf den Boden, während der Kopf sich überschlug und die schwarzen Wände mit spritzendem Blut benetzte. Schließlich landete er knapp hinter der Tür des Bolg-Königs.