Verschwunden waren die Händler, die lauthals ihre Waren anpriesen, die Sänger und die kreischenden Anreißer. Der Innere Markt war ein Ort dichter Stille und verstohlener Blicke, wo verborgene Augen jeder Bewegung folgten.
Slith hielt den Blick gesenkt, wie ihm befohlen worden war, und betrachtete die Absätze von Bonnards bäuerlichen Stiefeln. Er spürte die Blicke von tausenden dieser verborgenen Augen, doch er wusste, dass es tödlich sein konnte, einen dieser Blicke zu erwidern.
Schließlich blieb Bonnard stehen. Slith schaute auf.
Vor ihnen erhob sich ein breites einstöckiges Lehmgebäude. Es war dunkel vom Kohlenstaub, mit dem sich der yarimesischen Lehm beim Brennen vermischt hatte. Wie die meisten Gebäude in Yarim befand es sich in einem Zustand fortgeschrittenen Verfalls. Lehm und Kohlenstaub blätterten von dem Haus ab und deuteten eine tiefer liegende Fäulnis an. Die unregelmäßigen Flecke erweckten den Eindruck, als blute das Gebäude.
Auf der Tür befand sich ein Wappenschild: das Zeichen des Raben, der eine Goldmünze in den Krallen hielt. Slith unterdrückte ein Schaudern. Er hatte dieses Gildezeichen schon einmal gesehen – an dem Tag, als sein Lehrvertrag abgeschlossen worden war und ihn seine Mutter in das Zählhaus der Rabengilde gebracht hatte, damit Esten ihn in Augenschein hatte nehmen können. Die Rabengilde im Stadtzentrum von Yarim Paar war ein prachtvolles Gebäude und beherbergte die größte Handelsorganisation der Provinz, einen Zusammenschluss von Ziegelbrennern, Keramikern und Glasbläsern sowie Schmieden aller Art. Außerdem unterhielt die Gilde ein Botensystem zwischen den einzelnen Provinzen. Es war das am schlechtesten gehütete Geheimnis von Yarim, dass es sich bei dieser Gilde um einen beachtlichen Zirkel von Berufsdieben, Verbrechern und Räubern handelte, welche die nächtlichen Herrscher von Yarim waren.
Und Esten war ihre unangefochtene Anführerin.
Kalte Fäden aus Schweißperlen rannen ihm am Hals herunter, als Bonnard die Tür öffnete und ihn ungeduldig in das Innere schob. Slith folgte dem Gesellen in einen Alkoven links neben der Tür und sah nervös zu, wie Bonnard in der Dunkelheit vor ihm verschwand.
Er zwinkerte und versuchte seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Der Raum hatte keine sichtbaren Begrenzungen. Ein zerschmetterter Tisch, grob aus geborstenem Holz gezimmert, stand in einiger Entfernung rechts von der Tür; wenigstens schien es ein Tisch zu sein. Darum war eine Reihe nicht zueinander passender Stühle verschiedener Größen und Stile gruppiert. Er glaubte einen kalten Kamin hinter dem Tisch zu erkennen. Der beißende Geruch von Kohlen und ranzigem Fett hing dick in der abgestandenen Luft.
»Du wolltest mich sprechen?«
Slith wich vor Entsetzen zurück. Betäubende Kälte durchströmte ihn.
Das Gesicht war ihm fast so nahe wie die Luft, die er atmete. Die Züge verschwammen in der Dunkelheit. Es schien körperlos zu sein. Dunkle Augen starrten ihn an.
Slith schluckte und nickte wortlos. Sein Mund war so trocken, dass er kein Wort herausbrachte. Die schwarzen Augen zwinkerten wie vor Belustigung.
»Dann rede.«
Slith öffnete den Mund, aber kein Laut drang heraus. Die Augen in der Dunkelheit verengten sich ein wenig; ein Ausdruck der Verärgerung kroch in sie. Er räusperte sich und zwang die Worte heraus.
»Ich habe etwas gefunden. Ich glaube, Ihr solltet es sehen.«
Das Gesicht neigte sich ein wenig.
»Nun gut. Zeige es mir.«
Slith tastete in seiner Hemdtasche herum und zog ein Bündel aus Lappen hervor, in das er die blauschwarze Scheibe eingewickelt hatte. Bevor er das Bündel übergeben konnte, war es schon aus seiner Hand verschwunden.
Die dunklen Augen blickten nach unten, dann wandte sich das Gesicht ab und verschwand. In der Ferne pulsierte ein glimmendes Licht und verstärkte sich zu einem Ring, als nacheinander ein Kreis von Lampen enthüllt wurde.
Als der Raum erhellt war, bemerkte Slith, dass er viel kleiner war, als er in der Dunkelheit angenommen hatte. Aus den Ecken beobachteten ihn die grauhaarigen Männer, die das Zimmer erhellt hatten.
Esten stand vor ihm und drehte die blau-schwarze Scheibe vorsichtig in ihren langen, zarten Händen. Im Gegensatz zu den meisten yarimesischen Frauen war ihr Gesicht unverhüllt. Im flackernden Lichtschein erkannte er, dass sie nicht größer als er selbst war. Sie hatte langes, rabenschwarzes Haar, und ihre Kleider waren von der Farbe einer sternenlosen Nacht, sodass sie sich noch vor einem Augenblick vollkommen der Dunkelheit hatten anpassen können. Sie trug die geflochtenen Haare zu einem Knoten hochgesteckt, was die scharfen Linien ihres Gesichts noch betonte. Slith vermutete, dass sie von gemischtem Geblüt war, denn ihr Gesicht besaß zwar einige, aber nicht alle Eigentümlichkeiten einer Yarimesierin. Kurz überlegte er, woher sie stammen mochte, doch die Gedanken verschwanden sofort wieder, als sie den Blick auf ihn richtete.
»Du bist einer von Bonnards Lehrlingen?«
Sliths Vater hatte nur wenige weise Worte gesprochen, die ihm im Gedächtnis geblieben waren, doch an einen oft wiederholten Satz erinnerte er sich deutlich: Sieh jedem Menschen ins Auge, sei er Freund oder Feind. Deine Freunde verdienen Respekt, und deine Feinde sollen ihn vor dir bekommen. Er erwiderte ihren Blick so hochachtungsvoll und gleichzeitig so direkt wie möglich.
»Ja.«
Esten nickte. »Dein Name?«
»Slith.«
»In welchem Jahr bist du?«
»Im vierten.«
Sie nickte wieder. »Dann bist du ... elf? Zwölf?«
»Dreizehn.«
Ein Ausdruck von Neugier stahl sich in ihren Blick. »Hmm.
Dann warst du schon ziemlich alt, als ich dich eingestellt habe, nicht wahr?«
Slith schluckte. Er war fest entschlossen, standhaft zu bleiben, und zuckte die Achseln. Esten sah belustigt aus. »Den hier mag ich, Dranth. Er hat Stahl in seinen Eingeweiden. Kümmere dich darum, dass er genug zu essen bekommt.« Die blau-schwarze Scheibe erschien zwischen ihren langen, dünnen Fingern. »Woher hast du sie?«
»Ich habe sie in einem gebrannten Topf auf dem hinteren Lagerregal im Brennraum gefunden.«
»Weißt du, was das ist?«
»Nein«, sagte Slith. Er beobachtete Esten, als sie den Blick erneut auf die Scheibe richtete. »Wisst Ihr es?«
Sie wirkte entsetzt über seine Unverfrorenheit; es war, als habe er sie angegriffen. Beim nächsten Atemzug hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie bedeutete den Männern mit einer Handbewegung, dass sie nicht eingreifen sollten, und sah Slith wieder an.
»Nein, Slith, ich weiß nicht, was das ist«, sagte sie mit fester Stimme und hielt die Scheibe gegen das Licht, das aus den beschirmten Lampen drang. »Aber heute Nacht kannst du in tiefstem Frieden ruhen und sicher sein, dass ich es herausfinden werde.«
»Zuerst habe ich geglaubt, es sei ein Nahtglätter«, meinte Slith und beobachtete, wie das Licht in Wellen über die Scheibe in Estens Händen lief. »Dann ist mir der Gedanke gekommen, dass es schon sehr lange in diesem Topf gesteckt haben könnte.«
Als Slith die Frau wieder ansah, glitzerten ihre Augen vor grausamer Erregung und schauten an ihm vorbei.
»Du magst Recht haben«, sagte sie sanft. »Vielleicht sogar drei Jahre lang.« Sie wandte sich an einen der Männer in der Ecke. »Yabrith, gib Slith eine Belohnung von zehn Goldkronen und ein gutes Mahl für seine scharfen Augen. Sag Bonnard, er wird in die Ziegelei zurückkehren, wenn er gegessen hat.«