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Sie sah Slith noch einmal an. »Deine Aufmerksamkeit hat uns beiden gute Dienste geleistet. Weiter so! Erzähl niemandem, was du entdeckt hast.«

Slith nickte und folgte dann dem mürrischen Mann, der ihm ein Zeichen gab.

Dranth, der Kronprinz der Gilde, sah dem Jungen nach und wandte sich dann an die Anführerin.

»Willst du, dass er entfernt wird?«

Esten schüttelte den Kopf, während sie die Scheibe in den Händen drehte. »Nicht, bevor wir herausgefunden haben, was das hier ist. Es wäre eine Schande, vier Jahre gute Ausbildung einfach wegzuwerfen, falls es wirklich nur ein Nahtglätter ist.«

Dranths Augenlider zuckten nervös im Lampenlicht. »Und wenn es mehr ist? Wenn es wirklich etwas ist, das wir übersehen haben, wenn es ein Überrest aus ... jener Nacht ist?«

Esten hielt die Scheibe erneut gegen das Licht. Blaue Wellen spiegelten sich in der dunklen Iris ihrer Augen wider.

»Bonnard weiß, wo der Junge schläft. Und du weißt, wo Bonnard schläft.«

Schließlich riss sie sich von dem Anblick der Scheibe los und nickte den verbliebenen Männern zu, die durch die Hintertür hinausgingen und im dunkelsten Teil des Inneren Marktes verschwanden. Alle Lampen bis auf eine waren gelöscht worden, und die Nacht hielt bereits Einzug in den Räumen der Gildenhalle, als die Männer mit Mutter Julia zurückkehrten.

Esten lächelte schief, als sie zuschaute, wie die verhutzelte Vettel das Vorzimmer der Halle betrat. Sie wirkte wie eine vertrocknete alte Pflaume, hatte einen Buckel und war in unzählige farbenfrohe Schals gewickelt, doch sie war die zweitmächtigste Frau auf dem Markt und gewohnt, jene, die Informationen von ihr haben wollten, in ihrem eigenen Nest und zu ihren eigenen Bedingungen zu empfangen. Es hellte ihre für gewöhnlich schrullige und herrische Art nicht gerade auf, mitten in der Nacht herbeigerufen und in die Tiefen des Inneren Marktes geführt zu werden, doch wie jeder andere im Reich der Diebe konnte sie sich Esten nicht widersetzen und wagte es auch nicht, Anzeichen von Verärgerung zu zeigen.

Ein falsches Lächeln, in dem etliche Zähne fehlten, legte sich über das zerfurchte Gesicht.

»Guten Abend, Gildenmeisterin. Möge das Schicksal es gut mit Euch meinen.«

»Mit dir auch, Mutter.«

»Was kann ich für Euch tun?«

Esten betrachtete das verwitterte Gesicht. Die gealterten Züge gaben eine täuschende Bühne für die hellen, flinken Augen ab, die ihren Blick erwiderten. Mutter Julia war Hellseherin von Beruf und führte ein sehr angenehmes Leben vom Geld der Narren, die bei ihr um Rat suchten. Obwohl ihre Fähigkeit, die Zukunft vorherzusagen, nicht besser als die irgendeines beliebigen Menschen war, stellte sie doch eine Quelle meist recht zuverlässiger Informationen über die Vergangenheit und, wichtiger noch, die Gegenwart dar, die sie hauptsächlich ihrem großen Netzwerk von Spionen verdankte, welche sich sowohl in Yarim als auch in den anderen Provinzen und Ländern aufhielten und zum überwiegenden Teil aus Mitgliedern ihrer eigenen Familie bestanden. Esten wusste, dass sie nach der letzten Zählung siebzehn lebende Kinder und mehr Enkel, Vettern und angeheiratete Verwandte hatte, als Sterne am Nachthimmel standen.

Esten wusste auch, dass sie besorgt war. Das gefurchte Gesicht wirkte ruhig, doch in den dunklen Augen brannte ein nervöses Licht. Gewöhnlich schlug sich Mutter Julia beim Spiel der Informationen besser als alle anderen auf dem Markt, aber sie hatte sich zu früh preisgegeben, hatte schon beim zweiten Atemzug versucht, Esten in ihre Schuld zu zwingen. Sie wird alt, dachte die Gildenmeisterin und verschloss diese Einsicht wie alles andere tief in ihrem Innern. Sie drehte sich um und ging zum Feuer, wobei sie Mutter Julia einen offenen Blick verweigerte.

»Gar nichts, Mutter.«

Die alte Frau hustete. Es war ein schwindsüchtiger Laut voller rasselndem Schleim und Angst. »Oh?«

Esten lächelte innerlich, setzte dann eine Maske des Ernstes auf und wandte sich der alten Frau zu.

»Ich bin außerordentlich enttäuscht über dein Schweigen in einer Angelegenheit, in der ich dich um Hilfe gebeten hatte.«

Die Wahrsagerin fuhr sich mit ihrer arthritischen Hand an die Kehle. »Ich... ich habe ... habe die Zukunft sorgfältig vorhergesagt, Gildenmeisterin, und durch den... den roten Sand der Zeit geblickt, um herauszufinden ...« Ihre Worte erstarben, und sie versank in Schweigen, als Esten die Hand hob.

»Erspare mir deine Taschenspielerkunst und Effekthascherei. Ich bin keiner von den Narren, die so etwas von dir verlangen. Du hattest mehr als drei Jahre Zeit, um mir eine Antwort auf eine einfache Frage zu geben, Mutter: Wer hat meinen Tunnel zerstört, meine Sklaven gestohlen und meine Gesellen getötet? Wer hat mir das schlafende Wasser der Entudenin aus den Händen genommen, Yarim verdurstend zurückgelassen und mich des Reichtums und der Macht beraubt, die es mir gebracht hätte? Es hätte einfach sein sollen, wenigstens eine Spur zu finden, doch du hast mir nichts geliefert – rein gar nichts.«

»Ich schwöre Euch, Gildenmeisterin, ich habe eifrig gesucht, eine Nacht nach der anderen, aber es gibt keine Spuren!«, stammelte die Alte mit schwankender Stimme. »Niemand in Yarim weiß etwas. Außerhalb des Marktes weiß ja nicht einmal jemand etwas von dem Tunnel. Die Zerstörung muss das Werk böser Götter gewesen sein – wie, außer durch die Hand eines Dämons, könnte all der Lehm zu hartem Ton gebrannt worden sein, wo doch all Eure Öfen zusammen das nicht hätten vollbringen können?«

Eine nur verschwommen wahrgenommene Bewegung reichte aus, und Estens Augen befanden sich nur noch einen Hauch von denen der Alten entfernt. Sie hatte eine gleißende Klinge in der Hand, die so fest gegen Mutter Julias Kehle drückte, dass winzige Blutstropfen bei jedem nervösen Zittern in die Luft spritzten.

»Du alte Närrin«, brummte Esten mit leiser Stimme. »Götter? Ist das alles, was du mir nach dieser langen Zeit zu bieten hast?« Sie schlug heftig und verächtlich zu und drückte Mutter Julia gegen den Tisch hinter ihr, an dem sie mit einem Schmerzensseufzer zusammenbrach. »Es gibt keine Götter, Mutter Julia, und keine Dämonen. Ein Scharlatan wie du, der den Dummen die Münzen für farbigen Rauch und körperlose Stimmen aus der Tasche zieht, sollte das doch am besten wissen, denn wenn es sie gäbe, würdest du schon in der Gruft der Unterwelt schmoren.«

»Nein, nein«, jammerte die Frau und versuchte aufzustehen, doch es gelang ihr nur, die Tischplatte zu umfassen, bevor sie wieder auf den schmutzigen Boden fiel. »Ich bete den All-Gott an, den Schöpfer, der mich gemacht hat.« Sie vollführte mit zitternden Armen ein Zeichen über Herz und Ohren. Esten seufzte. Sie ging hinüber zu der Stelle, wo die Frau auf dem Boden hockte, packte sie am Arm und drückte sie auf einen Stuhl.

»Die Götter machen uns nicht, Mutter Julia. Wir machen die Götter. Wenn du das verstündest, wärst du eine viel mächtigere und höher geachtete Frau, statt nur eine pathetische Betrügerin zu sein, die die Leichtgläubigen beschwindelt und mit Manwyns Narreteien wetteifert.«

Als die alte Frau den Namen des Orakels der Zukunft hörte, machte sie wieder das Zeichen und riss die Augen vor Schreck weit auf. »Beschwört sie nicht«, flüsterte sie. »Bitte, Gildenmeisterin.«

Esten schnaubte verächtlich. »Zu spät. Nur Manwyn sieht die Zukunft. Sie wusste, was du hören würdest, noch bevor ich es aussprach, doch jetzt kann sie sich nicht mehr daran erinnern.« Sie hockte sich vor die entsetzte Wahrsagerin und bewegte sich langsam und berechnend wie eine Spinne, die auf ihr Opfer zukriecht. »Sie weiß nur, was vor dir liegt.« Sie neigte den Kopf; ihre dunklen Augen glänzten. »Glaubst du, sie hat Angst um dich?«

»Bitte...«

»Bitte? Bittest du mich jetzt um einen Gefallen?« Esten lehnte sich weiter vor; ihre Glieder bewegten sich in einem tödlichen Tanz. »Hast du geglaubt, du hättest unbegrenzt Zeit? Hast du geglaubt, meine Geduld sei grenzenlos? Dann bist du ein noch größerer Narr als dieses Gewürm, das dich aufsucht, um Antworten auf seine unbedeutenden Fragen zu erhalten.« Sie hielt um Haaresbreite vor der zitternden Alten inne, und das Glimmen in ihren Augen wurde härter; es war wie Lehm, der im Ofen zu Keramik brennt.