»Ich benutze dich, weil dein Netzwerk – deine lepröse Familie – so viele Augen hat«, sagte sie mit fester, leiser und tödlich harter Stimme. »Offenbar sind diese hunderte von Augen blind, wenn sie in den drei Jahren keine Spur finden konnten, oder etwa nicht, Mutter?« Ein erschreckendes Lächeln breitete sich langsam auf ihrem zarten Gesicht aus. »Vielleicht brauchen sie diese Augen nicht mehr.«
Sie wandte sich an den Kronprinzen Dranth: »Gib den Befehl an die Rabengilde heraus, dass jedem Mitglied der Familie dieser einfältigen Frau die Augen herauszureißen sind, sobald man ihm begegnet, eingeschlossen die verfluchten Enkel, die durch die Straßen streichen, den Unrat vermehren und die Luft atmen, die all jenen vorbehalten ist, welche von wirklichem Wert sind.«
»Gnade«, flüsterte die alte Frau und krallte die arthritischen Hände ineinander. »Bitte, Gildenmeisterin, ich flehe Euch an...«
Esten entfernte sich ein wenig von ihr und betrachtete Mutter Julia, deren Gesicht grau und schweißüberströmt war.
»Gnade? Nun, ich vermute, ich kann deine Bitte überdenken und dir eine letzte Gelegenheit geben, deine bedauernswerte Familie zu retten. Doch wenn ich das tue und du schon wieder versagst, wird die ganze Welt deinen Klan als Missgeburten ansehen, weil all das, was an ihren Köpfen nutzlos ist -
Augen, Ohren und Zunge -, ihnen genommen und in die Gassen geworfen wird, damit sich meine Hunde daran mästen können. Haben wir uns verstanden, Mutter?«
Die Alte konnte nur schwach nicken.
»Gut.«
Esten zog aus ihren Kleidern das Lumpenbündel hervor, das Slith ihr gegeben hatte. Mit großer Vorsicht entfernte sie die Stoffschichten und enthüllte den blau-schwarzen Stahl der hauchdünnen Scheibe. Sie leuchtete in dem unbeständigen Licht der Lampen.
»Weißt du, was das ist?«
Mutter Julia schüttelte den Kopf.
Esten seufzte. »Betrachte sie genau, Mutter Julia. Gebrauche deine Augen vielleicht zum letzten Mal. Ich will, dass innerhalb dieses Mondzirkels dein ganzer Klan, so weit dein Einfluss reicht, nach dem Ursprung dieses Gegenstands sucht. Und was noch wichtiger ist: Ich will wissen, wem er gehört. Wenn du mir diese Informationen bringst, werde ich euch weiter unter meinen Schutz stellen. Wenn nicht...«
»Ich werde nicht versagen«, sagte die Alte leise. »Vielen Dank, Gildenmeisterin.«
Esten streichelte sanft die verrunzelte Wange der Frau. »Das weiß ich, Mutter.« Sie holte zwischen den Falten ihres Hosenstoffs eine Goldmünze mit dem aufgeprägten Kopf des cymrischen Herrschers auf der einen Seite und dem Wappen des Bündnisses auf der anderen hervor. »Gib diese Goldkrone deinem neugeborenen Enkel. Wie heißt er noch gleich?«
»Ignacio.«
»Ignacio – welch ein schöner Name. Gib es bitte Ignacios Mutter für ihn und übermittle ihr meine besten Wünsche zu seiner Geburt.«
Die alte Frau nickte zitternd, als zwei von Estens Männern sie bei den Armen nahmen und auf die Beine stellten.
»Kümmert euch bitte darum, dass Mutter Julia sicher nach Hause kommt«, befahl Esten ihnen, während sie die Alte zur Tür führten. »Ich möchte nicht, dass dieser armen Dame etwas Unvorhergesehenes zustößt.«
Sie wartete, bis die Tür wieder fest geschlossen war, setzte sich dann vor die Lampe und beobachtete die wässerigen Muster der leichten Kräuselungen, die über die glatte Oberfläche der Scheibe und den rasiermesserscharfen Rand liefen wie helle Wellen über eine leuchtende Klippe in das dunkle Meer.
Bald, dachte sie. Ich werde dich bald gefunden haben.
4
Grün
Gasverberger, Lichtungskenner
Kurh-fa
Auch wenn ihn einmal das königliche Gespür verließ, das ihm alle Bewegungen und Veränderungen im Gebirge kundtat, hatte Achmed doch immer gewusst, wann Grunthor in den Kessel zurückgekehrt war.
Vor Jahrhunderten, im alten Leben, hatte Achmed einen Fjord in der Nähe des Feuerriffs überquert, eine schmale Bucht mit schäumenden Strömungen zwischen hoch aufragenden schwarzen Basaltklippen. In den dichten Wäldern oberhalb dieser Klippen, die voller wildem Leben, aber von Menschen unbewohnt waren, lebten Feuerwürmer, gigantische drachenähnliche Tiere mit einer Chamäleonhaften Haut, die der Legende nach aus lebendiger Lava bestanden und Zähne aus Schwefel hatten. Diese Schlangen schliefen die meiste Zeit, aber wenn sie auf die Jagd gingen, krochen sie recht leise durch das Unterholz; er hatte jedoch immer bemerkt, wenn sie sich näherten, denn dann verschwanden alle Tiere in der Umgebung. Die unablässigen Vogelgesänge, die sonst über seine überempfindliche Haut liefen, endeten plötzlich, als halte der Wald den Atem an und hoffe, die Jäger würden vorüberziehen.
Genauso war es in Ylorc, wenn Grunthor zurückkehrte.
Achmed hatte nie genau sagen können, wie es dem Sergeant-Major gelang, solch tiefe Furcht in den Herzen der Firbolg-Soldaten unter seinem Kommando zu erregen, doch was immer es war, er hatte es nur ein einziges Mal anwenden müssen.
Von dem Augenblick an, da man ihn sichtete, wurde in den Korridoren und auf den Bergpässen Habt-Acht-Stellung eingenommen, auch wenn Grunthor noch drei oder vier Meilen entfernt war. Alle Narreteien wurden eingestellt, die Uniformen angezogen und das Benehmen umgestellt. Die Firbolg spürten sein Herannahen aus großer Entfernung wie die Vögel und Tiere des Fjords, die sich vor den Feuerwürmern versteckten, und wie sie unternahmen sie große Anstrengungen, seine Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken.
Trotz der offensichtlichen Angst vor dem Kommandanten, die er beständig hegte und pflegte, war das Firbolg-Heer Grunthor in einer Weise ergeben, wie es bei den Bolg bisher nie vorgekommen war. Für Achmed war es eine Quelle der Erheiterung zu sehen, wie die primitiven Nomaden, die er, Grunthor und Rhapsody hier vorgefunden hatten, in kaum mehr als vier Jahren wie die Soldaten aus Roland, Sorbold oder Tyrian gelernt hatten, stramm Wache zu stehen. In Taktik und Waffengebrauch waren sie sogar noch besser ausgebildet; solche Fähigkeiten konnte man nur bedingt durch Übung erwerben. Zum größten Teil sprossen sie aus reiner Loyalität.
Grunthors drohende Ankunft an diesem Tag aber schien mehr als die übliche Besorgnis zu erregen. Die Firbolg-Soldaten nahmen nicht ihre gewohnten Stellungen ein, sondern stoben vor den Spähern davon, die seine Ankunft mitteilten.
Das bedeutete nichts Gutes. Was mochte Grunthor bei seiner Grenzpatrouille entdeckt haben? Einige Augenblicke später wurde Achmeds Vorahnung bestätigt. Vom Rand der Steppe, die bis zum Vorgebirge der Manteiden reichte – wie die Zahnfelsen offiziell von den Kartographen genannt wurden -, kam eine Gruppe von acht Reitern herangeprescht; ein gewaltiges Kriegspferd hatte die Führung übernommen. Mit seiner außergewöhnlichen Wahrnehmungsgabe erkannte Achmed den Sergeant-Major, hinter dessen Rücken die vielen Griffe seiner gesammelten Waffen hervorragten. Er trieb Felssturz, sein Pferd, heftig an, erreichte die Befestigungen und preschte durch die Tore der jüngst aufgetürmten Mauern aus gebrannten Ziegeln und Erdpech.
Der Bolg-König lief hinüber zum Quartiermeister, der bereit stand, um das Pferd des Sergeanten zu übernehmen, und wartete.
Der Boden unter seinen Füßen bebte Unheil verkündend, als die Gruppe eintraf. Der Staub stieg unter ihnen auf wie Rauch aus auflodernden Feuern. In Grunthors Augen lag ein Blick, den Achmed sogar aus der Ferne erkennen konnte und der ihm gar nicht gefiel. Diese bernsteinfarbenen Augen hatten so viel Vernichtung und Tod gesehen, hatten menschlichen und dämonischen Feinden gegenübergestanden und immer ihren festen Blick behalten. Doch nun drückten sie Verwirrung aus, was bei Grunthor mehr als ungewöhnlich war.