»Was ist geschehen?«, rief Achmed in den Bergwind, als der Sergeant sein Tier zum Stehen brachte und die Zügel dem Quartiermeister zuwarf.
Der riesige Bolg starrte auf den König herunter und schüttelte den Kopf. »Wollte dir grade dieselbe Frage stellen«, sagte er, während er sich vom Pferd schwang. »Hatte schon fast erwartet, hier alles in Flammen stehen zu sehn.« Er saß mit einem Erderschütternden Donnern ab.
Achmed sah ihn stumm an, bis der Quartiermeister das Kriegspferd weggeführt hatte. »Was hat dich so aufgeregt?«
Grunthor beugte sich vor und berührte mit der Hand ehrerbietig den Boden. Die Erde, mit der er durch ein elementares Band verknüpft war, jammerte nicht länger vor Angst, sondern war wieder ruhig.
»Auf dem Pass stimmte was nicht – was Schlimmes«, murmelte er und fuhr mit den dicken Fingern durch den Staub und die Kiesel auf dem Boden.
Der Bolg-König sah schweigend zu, wie sich der Sergeant erhob, mehrfach um die eigene Achse drehte und dann mit den Schultern zuckte.
»Als ob da plötzlich ’n Riss oder so was wie ’ne Höhlung gewesen wäre«, sagte er wie zu sich selbst.
»Kann’s nich’ besser erklären. Als ob die Erde verbluten würde.«
»Ist es noch da?«
Der Riese schüttelte den Kopf. »Nee. Jetzt ist alles ruhig.«
Achmed nickte. »Hast du eine Ahnung, was es gewesen sein könnte?«
Grunthor sog die Luft ein und stieß sie langsam wieder aus. Dabei spürte er den Herzschlag der Erde in seinem Blut. Die Verbindung mit diesem Element war zustande gekommen, als er, Achmed und Rhapsody aus ihrer dem Untergang geweihten Heimat hatten fliehen und durch die Tiefen der Welt entlang den Wurzeln der Sagia, des Weltenbaumes, hatten kriechen müssen. Im Verlauf dieser scheinbar endlosen Reise durch die Zeit hatte er den uralten Rhythmus der Erde in sich aufgenommen und die Geheimnisse eingeatmet, die in ihren Tiefen verborgen lagen. Er hatte sie durch und durch kennen gelernt, auch wenn er dem, was er in jener Zeit gelernt hatte, keinen Ausdruck verleihen konnte.
Grunthor, stark und verlässlich wie die Erde selbst, hatte Rhapsody ihn genannt, kurz nachdem sie durch das reinigende Feuer im Herzen der Erde geschritten waren. Dieser Name hatte das Band zwischen ihm und dem Element geknüpft. Sich über der Erde aufzuhalten verschaffte ihm ein gewisses Gefühl der Verlorenheit, weil er fern der tröstenden Wärme seines Elements war. Daher hatte die Wunde der Erde in seiner Seele widergehallt, was immer die Verletzung auch herbeigeführt haben mochte. Nun hatte er Angst – ein Gefühl, das er in seinem Leben selten verspürt hatte. Er schüttelte wieder den Kopf. »Nee.«
Achmed schaute durch das Tor über die Zinnen hinweg auf die Steppe dahinter. Die Morgendämmerung kam heran und hüllte die Welt in kaltes Licht. Der Wind peitschte über die wüste Ebene, und das Gras bog sich in Demut. Undurchbrochene Wellen von Vegetation verbargen ein Bollwerk aus versteckten Zinnen, Gräben und Tunneln, welche die erste Verteidigungslinie der Firbolg bildeten. Es lag etwas Bedrohliches in der Luft.
Als er den Blick abwandte, schaute er in Grunthors Augen. Zwischen den beiden Männern flog ein unausgesprochener Gedanke hin und her.
Gemeinsam eilten sie in den Kessel.
Achmed untersuchte sorgfältig den Korridor vor seiner Schlafkammer, bevor er die Tür versperrte. Er nickte Grunthor zu, der vorsichtig die komplizierten Schlösser an der schweren Truhe vor dem Bett des Bolg-Königs öffnete. Dann hob er den Deckel an und enthüllte ein dunkles Portal. Er kletterte in die Truhe, und einen Atemzug später folgte ihm Achmed, der den Deckel hinter sich schloss. Schweigend gingen sie durch den dunklen Korridor; die grob behauenen Basaltwände schluckten das Geräusch ihrer Schritte. Die Luft der Oberwelt, die klar von der relativen Frische des Morgens gewesen war, wurde umso stickiger und feuchter, je tiefer sie in den Berg eindrangen. Das Atmen bereitete ihnen immer größere Schwierigkeiten. Der schwere Geruch von Zerstörung, die rauchgeschwängerte Luft waren auch nach drei Jahren noch nicht verschwunden. Das Feuer, das tief in den Eingeweiden des Berges getobt hatte, war schon lange erloschen, hatte aber beißenden Ruß und bitteren Staub hinterlassen, der in Augen und Lunge brannte.
Keiner der beiden Bolg sprach ein Wort, als sie den Tunnel durchschritten, den Grunthor zum Loritorium gegraben hatte. Gespenster steckten in diesen Gängen, Geister von Menschen und Träumen, die beide einen schrecklichen Tod erlitten hatten. Sie richteten ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, den Fallen auszuweichen, die Grunthor aufgestellt hatte und die den Tunnel versiegelten, falls jemand anderes als sie beide oder Rhapsody eindringen sollte, die einmal im Jahr hierher kam und sich um das Kind kümmerte.
Tief im Innern des Berges, am Ende des Tunnels, erhob sich drohend ein Geröllhaufen in der Dunkelheit, der als Bollwerk und letzte Barriere vor dem Loritorium diente. Achmed blieb kurz stehen und wartete darauf, dass Grunthor einen Durchgang durch den Schutt schuf.
Während er wartete, schaute er hoch zur Decke, die sich in der Finsternis bis zur Kuppel des Loritoriums erstreckte. Wenn er diesen Ort sah, musste er unweigerlich an den traurigen Verlust denken, an den Untergang dessen, was einst ein Meisterwerk gewesen war, eine tief im Berg verborgene Stadt der Gelehrsamkeit, einst ein leuchtendes Beispiel für das Genie Gwylliams, des cymrischen Königs, der Canrif und die umliegenden Lande vor vielen Jahrhunderten begründet hatte. Nun war all das nur mehr ein Sinnbild für die Vernichtung, die eintritt, wenn die Vision dem Ehrgeiz und der Ehrgeiz dem gierigen Hunger nach Macht Platz machen muss.
Verdammt, dachte er. Wut versengte ihm die Kehle. Ich kann nur das wieder aufbauen, was dieser Narr zerstört hat.
Kaum hatte sich der Gedanke gebildet, verschwand er bereits wieder. Es gab kein Ende der Bauarbeiten in diesen Bergen, denn schließlich war nicht die Vollendung, sondern der Prozess des Bauens der Sinn des Ganzen. Die Erneuerung von Canrif und die zusätzlichen Projekte wurden allesamt aus einem einzigen Beweggrund unternommen: um des Aufbaus der Bolg willen, der unbekannten Rasse seines Vaters, die von primitiven, halb menschlichen Höhlenbewohnern zu einer richtigen Gesellschaft heranwachsen sollten – natürlich zu einer derben kriegerischen Gesellschaft, doch immerhin zu einer Kultur mit Wert, zu einem wesentlichen Beitrag der Geschichte. Und er hatte eine unendliche Lebensspanne zur Verfügung, um das zu bewirken. Wie sonst sollte er die Ewigkeit verbringen?
Aber nicht dieser Ort, dachte er. Niemals dieser Ort. Er bleibt, wie er ist: ungestört. Er untersuchte die verborgenen Einrichtungen, die die Heiligkeit dieses Ortes bewahren würden, falls ihnen beiden etwas zustoßen sollte, und dachte über die Geräte nach, die ihrem Herzschlag und ihren inneren Schwingungen angepasst waren und den Tunnel im Fall eines unerlaubten Eindringens versiegeln würden.
Wenn Grunthor stürbe, müsste ich eine ganze Schar von Arbeitern herführen, damit sie den Tunnel öffnen und säubern, und sie danach töten, dachte er. Welch eine schreckliche Verschwendung von Lebenskraft.
Ein orange-roter Schimmer fesselte seinen Blick. Er drehte sich um und sah, dass die Wand aus Schiefer und Staub um Grunthors ausgestreckte Hände wie geschmolzene Lava glimmerte und sich ein Eingang in den Berg öffnete. Es war ein Tunnel mit Wänden so glatt wie Glas. Achmed schüttelte seine Gedanken ab und folgte dem Bolg-Riesen durch die Öffnung.
Auf der anderen Seite des Hügels befanden sich die Überreste des Loritoriums, die nun unter völliger Stille lagen. Ein schwacher Dunst aus altem Rauch schlängelte sich unter die Kuppeldecke, aufgewirbelt vielleicht durch die Schwingungen ihrer Bewegungen und das Eindringen von Luft aus der oberen Welt.
Im Mittelpunkt der Überbleibsel des alten Hofes stand der Altar aus Lebendigem Gestein. Er schien unberührt zu sein. Das Schlafende Kind, das aus derselben elementaren Erde gebildet war, lag mit dem Rücken darauf.