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Achmed und Grunthor näherten sich still dem Altar und achteten sorgfältig darauf, das Erdenkind nicht zu stören. Über der Kammer, in der es vor deren Zerstörung geruht hatte, war in großen Buchstaben die folgende Warnung angebracht gewesen:

LASS DAS, WAS IN DER ERDE SCHLÄFT,

UNGESTÖRT RUHEN, SEIN ERWACHEN KÜNDET VON EWIGER NACHT

Die beiden Bolg hatten diese Warnung immer beachtet, denn sie hatten bei ihrer Reise durch den Mittelpunkt der Erde mit eigenen Augen die Bedrohung gesehen, auf welche die Zeilen sich bezogen. Sie war weitaus tödlicher als das Schlafende Kind.

Das Kind lag immer noch so da, wie sie es beim ersten Mal angetroffen hatten; die Augen waren in ewigem Schlummer geschlossen. Wie der Altar, auf dem es schlief, so war auch seine Haut eine polierte, durchscheinende graue Oberfläche, unter der die purpurnen, grünen, dunkelroten, braunen und zinnoberroten Venen zu sehen waren. Der Körper war so groß wie der eines Erwachsenen und schien nicht zu dem süßen, jungen Gesicht zu passen, einem Gesicht mit Zügen, die zugleich hart und lieblich waren – roh behauen und sanft geglättet. Es sah aus wie die lebende Statue eines menschlichen Kindes, gemeißelt von einem Wesen, das nie einen Menschen aus der Nähe gesehen und keinen Sinn für Perspektive hatte.

Das Haar des Kindes war lang und rau, grün wie Frühlingsgras und passte zu den Wimpern. Diese Wimpern zuckten bisweilen, doch die Lider blieben geschlossen, genau wie die schweren Lippen. Die beiden Bolg seufzten. Unausgesprochene Erleichterung zeichnete sich in ihrer Haltung ab. Sie näherten sich dem Altar.

»Sieht sie nich vielleicht... kleiner aus?«, fragte Grunthor nach langem Schweigen. Achmed blinzelte und betrachtete eingehend die Umrisse auf dem Altar. Es gab keine Anzeichen dafür, dass ihr Körper an Größe verloren hatte, dennoch hatte sich etwas verändert. Es war eine Zerbrechlichkeit um sie, die er nicht festmachen konnte und die ihm nicht gefiel. Schließlich zuckte er die Achseln. Grunthor verschränkte die Arme vor der Brust und schaute das Erdenkind aufmerksam an. Auch er zuckte die Schultern.

»Ich mein, sie hat was verloren, aber es kann nur wenig sein«, sagte er und runzelte sorgenvoll die riesige Stirn. Er legte die Decke aus Eiderdaunen, auf der das Kind ruhte, fest um dessen Körper und liebkoste dabei sanft seine Hand.

»Mach dir keine Sorgen, Kleines«, sagte er leise. »Wir hol’n dich zurück.«

»Es sieht doch nicht krank oder verletzt aus?«

»Nee.«

Achmed seufzte. Grunthors Beschreibung der Wunde, die er in der Erde gespürt hatte, machte ihn nervös und hatte in ihm die Befürchtung ausgelöst, das Erdenkind könne berührt oder verletzt worden sein – oder Schlimmeres. Es war eine immerwährende Sorge. Dieses Mädchen war nach seinem Wissen das letzte lebende Erdenkind; ein Wesen, das vor langer Zeit aus dem reinen Element gebildet und von einem unbekannten Drachen ins Leben gerufen worden war.

Eine der Rippen seines Körpers war ein lebender Steinschlüssel, der die Gruft der Unterwelt öffnete, in der vor aller Zeit die F’dor, die Dämonen des elementaren Feuers, eingesperrt worden waren. Die Dhrakier, die Rasse von Achmeds Mutter, hatten einen Bluteid geleistet, diese Gruft zu bewachen, damit die F’dor für alle Zeiten weggesperrt blieben, und jeden, der trotzdem entkommen konnte, zu jagen und zu erlegen. Genauso bestand die endlose Suche der oberweltlichen F’dor darin, einen Weg zu finden, ihre Brüder aus der Gruft zu befreien und Chaos und Zerstörung über die Welt zu bringen, wonach sie, die Kinder des Feuers, sich so sehr verzehrten. Das Erdenkind war also der Katalysator, der eine Ereigniskette in Gang setzen konnte, die nicht mehr rückgängig zu machen war. Das Schicksal der Erde hing von seiner Sicherheit ab, und Achmed hatte als ewiger Wächter geschworen, sich darum zu kümmern, dass das Kind unverletzt blieb, versteckt für alle Zeiten in dieser dunklen Gruft, die einst eine glänzende Stätte der Gelehrsamkeit und Weisheit gewesen war.

Es war ein geringer, aber kein leicht zu zahlender Preis.

»Schlafe in Frieden«, sagte er ruhig zu dem Erdenkind und nickte dann in Richtung des Durchgangs. Als sie den Tunnel durchquerten, den Grunthor in der Gerölllawine geöffnet hatte, schaute Achmed ein letztes Mal hoch zur Kuppel, die sich über der Schwärze des Loritoriums wölbte. Sie schien unbeschädigt zu sein. Er warf einen Blick zurück zu dem Altar aus Lebendigem Gestein. Das Erdenkind schlummerte weiter, anscheinend war es sich der Welt um es herum und der möglichen Bedrohung nicht bewusst.

Der Firbolg-König betrachtete es einen Augenblick lang, dann wandte er sich ab und ging vor Grunthor zurück durch den Tunnel; seine schwarze Robe umwisperte ihn. Der Bolg-Riese verschloss das Loch in den Steinen hinter ihnen.

»Was glaubst du – wieso hat die Erde so geschrien?«, fragte der Sergeant und warf einen letzten Blick über die Schulter, bevor er dem König durch den Korridor folgte.

»Ich habe keine Ahnung«, entgegnete Achmed. Seine Stimme hallte seltsam von den unregelmäßigen Wänden des ansteigenden Tunnels wider. »Ansonsten können wir kaum etwas tun, als uns vorbereiten, denn früher oder später wird es mich finden, um was es sich auch immer handeln mag. Komm, wir gehen von der einen Ruine zur anderen.« Grunthor nickte und schloss zu ihm auf. Den Rest des Weges zur Oberwelt legten sie in kameradschaftlichem Schweigen zurück.

Sie hatten bereits die Hälfte des Rückweges hinter sich gebracht; daher konnten sie nicht sehen, wie in der Dunkelheit der Begräbniskammer eine einzelne sandige Träne am Gesicht des Erdenkindes herablief.

Grunthor trat behutsam über die verstreuten Scherben farbigen Glases und schaute hoch zur dünnen Kuppel, die in den Gipfel des Gurgus, was auf Bolgisch Klaue hieß, eingelassen war. Auf den Gerüsten, welche die Wände umringten, war es nun still. Die Handwerker waren fort und hatten ihn und den König allein zurückgelassen.

Und einen beständig anwachsenden Haufen aus zerbrochenem Glas.

»Geht wohl nicht allzu gut voran, was?«, meinte Grunthor gutmütig und trat den Abfall beiseite. Er bückte sich und hob ein zerknittertes Stück Pergament auf, das unter den Scherben gelegen hatte und alle Anzeichen eines architektonischen Plans trug.

»Schlage es nicht auf«, riet Achmed ihm säuerlich. »Es ist voller Spucke. In der letzten Woche habe ich nach einem besonders schwierigen Tag jedermann ermuntert, sein Glück daran zu versuchen. Du solltest dich auch von den übrigen Papierknäueln fern halten. Mit fortschreitender Zeit haben die Körperflüssigkeiten darauf immer deutlicher unseren Fortschritt – oder eher dessen Gegenteil – widergespiegelt. Du kannst dir also vorstellen, womit es geendet ist.«

Grunthor grinste; seine säuberlich polierten Hauer glänzten in dem schwachen Licht. Er warf das Pergament zurück auf den Haufen.

»Warum machst du dich so verrückt damit?«, fragte er; sein Tonfall war sowohl leicht als auch ernst.

»Wenn du wirklich den Eindruck hast, du musst dich bis zum Wahnsinn ärgern, warum schickst du dann nicht einfach nach der Herzogin? Sie hat doch normalerweise denselben Effekt auf dich, und sie ist billiger als die Restaurierung einer Kuppel in einem Berg, wenigstens wenn du sie stundenweise bezahlst.«

Achmed grinste. »Wir sollten die schmuddelige Vergangenheit unserer cymrischen Herrscherin besser nicht zur Sprache bringen. Wir werden sie bald genug sehen. Ich habe letzte Nacht durch einen geflügelten Boten von ihr gehört. Sie will uns in vier Wochen in Yarim treffen.«

»Oh, gut«, erwiderte der Riese und schaute wieder den Turm hinauf. »Und was jetzt?«

»Sie will unsere Hilfe – deine Hilfe, um genau zu sein – bei der Wiederbelebung der Entudenin, dieses toten Geysir-Obelisken.«

Grunthor nickte und schob die farbigen Glasscherben mit der Stiefelspitze zusammen.

»Hab ihr schon vor langer Zeit gesagt, das ist möglicherweise ’ne Blockierung irgendwo in den Gesteinsschichten. Glaubt sie’s jetzt auch und will uns bohren lassen?«