»Manchmal ist es, als könnte ich ihn dort noch immer sehen, wie er nur in der Phantasie vorhandene Krieger jagt, Drachen steigen lässt, auf dem Rücken liegt, in die Wolken starrt und aus ihnen die Zukunft liest.« Er schüttelte den Kopf, als wolle er ein Gefühl von Kälte abstreifen. Dann drehte er sich um und sah sie ernsthaft an. »Hast du gewusst, dass seine Mutter wie meine gestorben ist, als er noch sehr jung war?«
»Nein.«
Ashe nickte und schaute wieder über die Felder. »Auszehrung. Es hat sie von innen her zerfressen. Danach war sein Vater nie mehr so wie früher. Sie hat etwas von seinem Geist mitgenommen, als sie ging. Stephen konnte sich kaum an sie erinnern. So wie Melisande sich nicht an Lydia erinnert.«
Rhapsody seufzte. »Ich werde nicht sterben, Sam«, sagte sie, wobei sie den Namen gebrauchte, den sie ihm vor langer Zeit gegeben hatte – in ihrer eigenen Jugend, als sie sich auf der anderen Seite der Zeit getroffen hatten. »Manwyn hat es dir ebenfalls gesagt. Sie sagte auf sehr direkte Weise: Gwydion ap Llauron, deine Mutter starb bei deiner Geburt, aber die Mutter deiner Kinder wird bei deren Geburt nicht sterben.«
Ashe schüttelte leicht den Kopf in dem vergeblichen Versuch, die Worte in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen, die ihm der Drache in seinem Blut in allen quälenden Einzelheiten immer wieder vorsagte. Es war mehr als drei Jahre her, seit er in dem dunklen Tempel von Manwyn, dem Orakel von Yarim gestanden hatte, der wahnsinnigen Seherin der Zukunft, die durch den Fluch der Geburt auch seine Großtante war, und er erschauerte unter der seltsamen Modulation ihrer Stimme, als sie eine Vorsehung ausgesprochen hatte, um die sie nicht gebeten worden war.
Ich sehe ein widernatürliches Kind, empfangen in einem widernatürlichen Akt. Rhapsody, du solltest dich vor der Geburt hüten: Die Mutter wird sterben, aber das Kind wird leben.
Rhapsody legte ihm zart die Hand auf die bloße Schulter, doch er schüttelte sie ab und versuchte, in seinem Kopf den Griff der Worte zu lösen, die sein Vater gesprochen hatte.
Ich vermute, du weißt, was deiner eigenen Mutter passiert ist, als sie dem Kind eines Drachen das Leben geschenkt hat? Ich habe dir die Einzelheiten bis jetzt erspart. Willst du sie hören? Willst du wissen, wie es ist, einer Frau, die man zufälligerweise auch noch liebt, zuzusehen, wie sie unter Schmerzen stirbt, während sie versucht, dein Kind zur Welt zu bringen? Ich will es dir gern beschreiben. Da das Drachenjunge instinktiv die Eierschale durchbrechen und sich mit den Krallen einen Weg hinaus bahnen will...
Halt.
Dein Kind wird noch drachenähnlicher sein als du; also sind die Aussichten der Mutter auf ein Überleben nicht groß. Wenn schon deine eigene Mutter es nicht geschafft hat, wie wird es dann wohl deiner Gemahlin ergehen?
Ohne seine Frau anzusehen, schüttelte er erneut den Kopf und beobachtete das rollende grüne Meer aus Gras unter ihm.
»Ich habe zu viel vom Tod gesehen, um ihn zu riskieren, Aria. Ich habe zu viele Weissagungen gehört, die missverstanden worden sind. Mit seinen letzten Worten hat mich mein Vater gewarnt, ich solle den Prophezeiungen nicht trauen, denn ihre wahre Bedeutung ist nicht immer das, was es zu sein scheint.«
»Wenn du den Prophezeiungen nur geringen Wert beimisst, warum beunruhigt dich die erste dann überhaupt?«, fragte Rhapsody und ergriff seine Hand. »Mir scheint, du glaubst all denen, die uns davon abhalten wollen, unser Leben so zu leben, wie wir es wünschen, damit wir nicht in Gefahr geraten. Dabei beachtest du diejenigen nicht, die diese ernsten Warnungen für nichtig erklären. Entweder du nimmst beide oder keine an, aber du solltest nicht die einen fürchten und den Trost der anderen verschmähen.«
Ashes Haut wurde im Licht der Nachmittagssonne dunkler. »Es gibt so viele Kinder in deinem Leben, Rhapsody – in unserem Leben. Wohin du auch immer gehst, von dieser Festung aus, in der du lebst, bis zu den Bergen von Ylorc, vom lirinischen Wald bis zum Hintervold hast du ›Enkel‹, die du liebst und um die du dich kümmern kannst. Ich glaube nicht, dass es weise ist, das Schicksal herauszufordern, indem du dem Kind eines Drachen das Leben schenken willst, das doch ebenfalls Drachenblut in den Adern hat. Es gibt genügend mütterlose Kinder, um die du dich sorgen kannst; du musst nicht noch ein weiteres in die Welt setzen.« In seiner Stimme saß ein bitterer Stachel.
Rhapsody nahm seine Arme, drehte ihn um und schlüpfte in seine Umarmung.
»Ich weigere mich, meine Entscheidungen auf der Grundlage der wahnsinnigen Rasereien deiner Großtante zu treffen«, sagte sie spöttisch. »Aus diesem Grund lege ich auch nie die scheußlichen Tischdecken aus Brokat auf, die sie uns zur Hochzeit geschickt hat.« Nun wurde ihre Stimme ernster, und sie streichelte ihm zärtlich den Nacken. »Ich will mit dir das Leben führen, das wir uns ausgedacht haben, Sani. Ich will mein Blut mit deinem mischen, deine Kinder in mir tragen und mit dir eine Familie gründen, die uns ganz allein gehört. Ich war der Meinung, du willst das auch.«
Ashe wandte den Blick nicht von der Windumtosten Ebene ab. Mehr, als du es dir vorstellen kannst, dachte er.
»Wenn es einen guten Grund gibt, keine Kinder zu haben, will ich diese Idee sofort begraben, aber angesichts zweier widersprechender Prophezeiungen sehe ich keinen Anlass, in Angst vor etwas zu leben, das angeblich nicht eintreten wird. Außerdem ist die Prophezeiung, die du fürchtest, schon eingetreten. Sie war nicht an mich gerichtet, sondern an die Mutter des letzten Kindes, das von dem F’dor gezeugt wurde, den wir vernichtet haben.« Bei dieser Erinnerung verdunkelten sich ihre Augen.
»Ich habe die Geburt und den Tod beobachtet. Die Mutter ist gestorben. Das Kind hat überlebt. Es ist vorbei. Die Prophezeiung ist erfüllt.«
»Dessen kannst du dir nicht sicher sein, Rhapsody.«
Sie warf die Hände in Verzweiflung hoch und wandte sich von ihm ab. »Wessen kann man sich schon sicher sein, Ashe? Das Leben ist jeden Moment ungewiss. Du kannst nicht in andauernder Furcht davor leben.« Ihr kam ein neuer Gedanke. Sie kehrte zurück zu ihm. »Manwyn kann nicht lügen, oder?«
»Nicht direkt, aber sie kann verwirren und ausweichen, und sie kennt die ferne Zukunft so gut wie die unmittelbar bevorstehende. Daher kann sie eine Antwort auf eine Frage geben, die sich zwar als wahr herausstellen wird, aber möglicherweise erst in tausend Jahren. Deshalb kann man ihr nicht trauen.«
»Aber wenn sie unmittelbar antwortet und ja oder nein sagt, kann sie nicht falsch liegen, oder?«
Ashe schüttelte den Kopf. »Vermutlich nicht.«
»Nun, da ich in den nächsten Tagen nach Yarim reise und Manwyns Tempel in Yarim liegt, werde ich Gelegenheit haben, sie direkt zu fragen, ob mir ein Kind von dir den Tod oder eine unheilbare Krankheit bringen wird oder nicht. Vielleicht kann sie mit ihrem Spruch alle Zweideutigkeiten klarstellen.«
Ashes Gesicht wurde zuerst blass, dann rot. »Eben noch war ich über alle Maßen dankbar, dass du nach Hause zurückgekehrt bist«, sagte er mit steinerner Miene. »Jetzt wünschte ich, du wärst in Tyrian geblieben, wo du wenigstens vor deiner eigenen Narrheit in Sicherheit warst. Rhapsody, hast du nicht bei unserem letzten Besuch in Manwyns Tempel gelernt, dass dies eine Erfahrung ist, die man besser nicht wiederholt?«
»Anscheinend nicht«, sagte sie schnippisch, machte sich von ihm los und ging auf die Tür zu.
»Anscheinend habe ich mich auch geirrt, als ich annahm, du würdest mein Verlangen nach einem Kind teilen. Wenn es so wäre, würdest du dich nicht von einer so fadenscheinigen Andeutung abschrecken lassen.« Sie ging die ersten Stufen hinunter, wurde sofort am Arm gepackt und herumgerissen.
Ashe starrte lange auf sie hinab. Rhapsodys Wut, die noch vor einem Atemzug glutheiß gewesen war, kühlte sich beim Anblick des Schmerzes in seinen Drachenhaften Augen ab.
Sie wusste, wie tief der Schmerz war, den er erlitten hatte, und dass seine Liebe sogar noch tiefer war. Innerlich verfluchte sie sich dafür, dass sie ihm diese Qualen verursachte, die ihrer Eigensüchtigkeit entsprangen. Sie öffnete den Mund, um eine Erwiderung zu geben, doch sie kam nicht dazu, denn er legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen.