»Wir gehen zusammen«, sagte er und nahm sanft ihr Gesicht zwischen die Hände. »Wir werden ihr die Frage gemeinsam vorlegen, und ich will versuchen, mit ihrer Antwort zu leben. Das ist der einzige Weg, auf dem wir die Oberherrschaft über unser Leben wiedererlangen können.«
»Bist du sicher, dass du das tun willst?«, fragte sie und zog eine Augenbraue hoch. »Wenn ich mich recht erinnere, warst da derjenige, den sie beim letzten Mal angegriffen hat. Mir hat sie keinerlei Schwierigkeiten gemacht.«
»Nun, wir stammen halt aus derselben Familie«, entgegnete Ashe. Eine Spur von Humor kehrte in seinen Blick zurück. »Wenn man nicht mit der Familie streiten kann, mit wem dann? Sieh dir doch bloß meine Großeltern an. Ihr Ehezwist führte zu einem Krieg, unter dem ein ganzes Reich zusammenbrach.«
»Hmm. Vielleicht sollten wir es uns doch noch einmal überlegen, diese Familie zu vergrößern«, meinte Rhapsody. Sie schaute über das windgepeitschte Steppengras und lächelte, als ein heller Papierdrachen in der Form einer Kupferschlange von einer Windbö eingefangen wurde und plötzlich auf der starken Strömung hochstieg. Sie winkte der kleinen Person in der Ferne zu, und Melisande winkte zurück.
Ashe seufzte. »Nein, du hast Recht«, sagte er schließlich. »Falls es wirklich möglich ist, würde ich gern zusehen, wie die Kinder des Hauses Navarne und die Nachkommen von Gwylliam und Manosse wieder auf diesen Feldern miteinander spielen.«
»Nun, in gewisser Hinsicht hängt das allein von dir ab.« Rhapsody sprach diese Worte sanft aus. Jeder andere Tonfall hätte ihn verletzt. Als Abkömmling einer Rasse von Erstgeborenen musste Ashe die bewusste Entscheidung treffen, Nachkommen zu zeugen. »Aber sobald du dich dafür entschieden hast, wann immer das sein mag, verspreche ich dir, dass du deine Entscheidung nicht bereuen wirst.«
Ashe lachte und küsste ihr die Hand, dann ging er zurück und beobachtete gedankenverloren Stephens Tochter dabei, wie sie mit ihrem Drachen Bilder in die Luft malte.
Die Dunkelheit im inneren Heiligtum von Manwyns Tempel wurde in unregelmäßigen Abständen von den winzigen Flammen unzähliger Kerzen und von Feuern durchbrochen, die in verfallenden Gefäßen loderten. Ein schwerer Geruch nach brennendem Fett lag in der Luft, der kaum von dem stechenden Weihrauch überlagert wurde.
Mutter Julia starrte über die schartige Quelle im Boden zu dem darüber hängenden Thronsessel. Sie versuchte, dem Blick der Seherin standzuhalten, aber es gelang ihr nicht. Die Augen der wahnsinnigen Prophetin waren vollkommene Spiegel wie aus Quecksilber, hatten keine Iris, keine Pupillen, keine Netzhaut. In ihnen tanzte der Schein der unzähligen Flammen wider. In Mutter Julia drehte sich alles wie verrückt.
»Wie ... wie lange werde ich leben?«, flüsterte sie und betupfte sich die graue Stirn mit den Fransen ihres farbenfrohen Schals.
Die Seherin lachte. Es war ein irrer, durchdringender Laut. Plötzlich rollte sie sich auf den Rücken und deutete mit dem alten Sextanten in ihrer Hand auf die schwarze Kuppel des Tempels über ihr. Sie schaukelte mit dem Sessel wild über dem zerklüfteten Abgrund und sang verrückte, tonlose Worte. Schließlich richtete sie sich wieder auf und lehnte sich über den Rand der Plattform, wobei sie ihren nachdenklichen Blick auf die zitternde alte Frau richtete.
»Bis dein Herz zu schlagen aufhört«, verkündete sie selbstgefällig. Sie winkte Mutter Julia fort. Ihre mit vielen kleinen Schuppen durchsetzte, rosig-goldene Haut schimmerte im Zwielicht.
»Warte«, ereiferte sich die alte Frau, als sich die Türen des inneren Heiligtums öffneten. »Das ist keine Antwort! Ich habe ein großzügiges Opfer dargebracht, und du hast mir gar nichts gesagt!«
Ein Schatten der Verwirrung flog über das Gesicht der Seherin. Mutter Julia wandte sich von den Wachen ab, die sie zu sich winkten. Sie begriff, dass sie ihren Einwand falsch ausgedrückt hatte. Manwyn verstand die Vergangenheit nicht, sondern nur die Zukunft und so viel von der Gegenwart, wie es ihr als Sprungbrett in die Zukunft diente. Mit zitternder Hand griff sie zwischen die Falten ihres Kleides und holte ihre letzte Goldkrone hervor. Sie hielt sie hoch; das Licht fiel auf die Oberfläche und spiegelte sich in den Augen der Prophetin wider.
»Du hast mir gar nichts gesagt. Du hast mir für alle Zeiten ein Schnippchen geschlagen, wenn du mir keine bessere Antwort gibst. Du wirst auf immer in meiner Schuld stehen.«
Manwyn legte den Kopf auf die Seite. Ihre verfilzte Mähne aus flammenfarbenem Haar bauschte sich in der Luftströmung aus der dunklen Quelle. Die Streifen aus metallischem Silber fingen einen Moment lang den Kerzenschein ein und erglitzerten. Mutter Julia zuckte vor Schmerz zusammen. Als Manwyn nachdachte, schürzte sie die Lippen und nickte dann lebhaft wie ein Kind.
»Sehr gut. Noch eine Frage. Denke gut nach. In diesem Leben werde ich dir keine weiteren Antworten mehr geben.«
Die alte Frau erbebte. Sie zermarterte ihr Hirn, um all ihre Fragen zu einer einzigen zu verbinden, während die alte Seherin an dem Rad des Sextanten drehte und unmelodisch summte. Schließlich holte Mutter Julia tief Luft und machte die Schultern breit.
»Wer wird mir sagen, worum es sich bei der Scheibe aus blau-schwarzem Stahl handelt?«, stammelte sie.
Die Prophetin schaute in den Sextanten und richtete den Blick dann wieder auf die Alte. Als sie sprach, war ihre Stimme deutlich und von allem Wahnsinn und Singsang befreit.
»Dein Sohn Thait wird dir sagen, was du in Erfahrung bringen sollst«, sagte sie nur. »In fünf Wochen und zwei Tagen, gerechnet ab dieser Nacht.«
Die alte Frau stieß einen Seufzer aus, der aus den Tiefen ihres Bauches kam. Erleichterung zeigte sich in ihren Augen und auf ihrer Stirn. Sie verneigte sich vor Manwyn, warf die Münze in die Quelle, murmelte ihren Dank und eilte an den Wachen vorbei durch die kunstvoll beschnitzte Zederntür. Sie wollte den Tempel so schnell wie möglich verlassen.
Als sich die Zederntür hinter der Frau schloss, schaute Manwyn auf, als verwirre sie etwas. Sie nickte sich selbst zu und rief dann leise in die ferne Dunkelheit: »Er wird es dir durch seine Tränen zuflüstern, wenn er neben deinem Grab sitzt und die Steine zurechtrückt.«
6
Indigo
Nachtbleiber, Nachtrufer
Luasa-ela
Der Geruch von Feuer im Wind ist immer aufregend, dachte der Seneschall und sog tief die Luft ein. Beißende Asche mischte sich mit dem Tang in der salzigen Seeluft und war für ihn wie ein Parfüm, besonders nach den Ereignissen des Morgens, als der weiße Rauch des Infernos dem gleichmütigen grauen Miasma Platz machte, das wie schmutzige Wolle im Wind über den schwelenden Kohlen hing, dem schäbigen Verursacher so vieler wunderbarer Flammen der vergangenen Nacht. Diesen Geruch hatte er sein ganzes Leben lang geliebt, doch in den letzten tausend Jahren hatte er für ihn eine ganz besondere Anziehungskraft angenommen, besonders wenn er mit dem Duft menschlichen Fleisches versetzt war, was ihm eine angenehme Beize verlieh.
In der vergangenen Nacht hatte er in der Dunkelheit des Ausgucks gestanden und die Scheiterhaufen beobachtet, die wie Signalfeuer entlang einer Schlachtlinie entzündet worden waren. Es war ein unvergleichliches Inferno gewesen; der Chor des Jammers, der im Sommerwind angeschwollen und verebbt war, war besonders melodisch gewesen – eine Sinfonie des Schmerzes, die Erregung in seiner Seele entflammt hatte.
Der Nervenkitzel war selbst im bitteren Licht der Morgendämmerung, die er vom schwankenden Deck der Basquela aus beobachtete, noch nicht vergangen. Die Feuer waren zu glimmender Asche heruntergebrannt, kühlten aus und warteten darauf, dass die Bauern des Inneren Halbmondes herbeikamen und die Überreste fortschafften, mit denen sie ihre Felder düngten.