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Darüber dachte der Seneschall eine Weile lang nach. Unter seiner Herrschaft war ein wohltätiges Gleichgewicht eingetreten. Die Schiffslinien hatten noch nie so viel Gewinn abgeworfen. Argauts Handelsflotte war eine der eindrucksvollsten und geachtetsten in der ganzen zivilisierten Welt. Sie durchfuhr die Ozeane in immer größeren Zirkeln und meisterte dabei einige der gefährlichsten Küstenlinien: den felsigen Archipel des Feuerriffs, die Haiverseuchten Gewässer von Iridu und Groß-Overward, wo die Räuberfische hundert Fuß lang werden konnten, die brennende Dünung, die noch immer über dem nassen Grab der versunkenen Insel Serendair im südlichen Meer brodelte und deren frühere Berggipfel Briala, Balatron und Querel nun trügerische Riffe mit kochenden vulkanischen Ausbrüchen bildeten.

Die wahre Gefahr an diesen Orten bestand nicht in den Naturphänomenen, sondern in den Piraten, die sie als Jagdgründe benutzten. Kaperer aus uralten Familien kreuzten mit ihren schnellen und leisen Schiffen in den Untiefen und Strömungen, als wären sie immun gegen die Gefahren des Meeres, und beherrschten den Wind mit gnadenloser Tüchtigkeit. Die Überreste der geplünderten Schiffe wurden nie gefunden. Die Fähigsten der Mannschaft und Passagiere verkauften sie als Sklaven in einer Vielzahl von Häfen auf der ganzen Welt, besonders aber auf den Diamantenfeldern des unteren Heraat in Groß-Overward und in den Gladiatorarenen von Sorbold. Die Alten, Kranken und Schwachen wurden als Haifutter hergenommen.

Die Briganten des Meereswindes, wie sich die Piraten gern selbst nannten, waren die Geißel der Schifffahrtslinien, der Schrecken der Meere und machten die Reiseverbindungen und Handelsrouten gefährlich. Selbst jene Nationen, die ihren Handelsschiffen eine Militäreskorte mitgaben, waren bei deren Rückkehr regelmäßig erschüttert. Eine starke, verlässliche Flotte aus schnellen Schiffen, die in der Lage war, den Blockaden der Kaperer auszuweichen, ihnen davonzusegeln und mit Mannschaft und Ladung zu entkommen, war eines der wertvollsten Besitztümer, das eine Kaufmannsgilde oder Nation haben konnte. Argauts Kaufmannsflotte und Marine waren ohnegleichen auf der Welt.

Denn dem Baron von Argaut gehörten sowohl die Flotte als auch die Piraten.

Das ergab einen vollkommenen Kreis, und es war eine einträgliche Art, jeden Wettbewerb zu unterbinden. Der Seneschall war außerordentlich stolz auf die schöne Einfachheit und Verkettung all dessen. Die Briganten griffen zuweilen auch Schiffe in den Gewässern nahe dem Nordland an, doch im Allgemeinen blieben sie so weit vom Hafen entfernt, dass sie keinen Verdacht erregten. Der Sklavenhandel förderte die Freundschaft von Orten wie Druverille, der vereisten Wüste nördlich von Manosse, und Sorbold, einer Schlüsselnation auf dem westlichen Kontinent an der Südgrenze des Drachenlandes. Die nördliche Küstenlinie des Drachenlandes wurde seit Jahrtausenden von der Drachin Elynsynos geschützt, die keinem Schiff die Annäherung an die neblige Küste erlaubte. Die Sklavenhändler von Sorbold waren Argauts bevorzugte Handelspartner, denn sie bezahlten hohe Summen für Gefangene, die in ihren berühmten Arenen kämpfen konnten.

Und so hatte sich der Kreislauf Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert fortgesetzt. Die Schifffahrtslinien füllten Argauts Schatztruhen mit den Segnungen des ehrenhaften Handels der Kaufmannsflotte und mit der Kaperbeute der Briganten. Der Sklavenhandel bildete einen leichten Abladeplatz für alle Opfer der Piraterie, die überlebt hatten und zu einer Aussage in der Lage waren. Die weniger wertvollen Gefangenen wurden gemeinsam mit einigen örtlichen Emporkömmlingen angeklagt, selbst Piraten zu sein, und in großen Feuern verbrannt, welche den Nachthimmel erleuchteten und die rechtschaffene Entrüstung der Bevölkerung abkühlten, während sie auf diese Weise gleichzeitig von der Tüchtigkeit der Regierung überzeugt wurde. Die Überreste der Unglücklichen wurden auf die Felder gestreut, um eine reichliche Ernte hervorzubringen, oder ihr Fett diente für die Talgkerzen. Beides waren Erzeugnisse für den Seehandel.

Und vor allem befriedigten sie die Blutlust des Seneschalls und des Barons, die es beide nach dem Nervenkitzel des Feuers verlangte.

Ich verspüre wirklich nicht den Wunsch, all das aufzugeben.

Der Seneschall wirbelte herum. Die Stimme des Barons hatte ihn überrascht.

»Mein Herrscher...«

Geh von Bord. Wir reisen nicht.

Die angenehmen Gedanken verschwanden und hinterließen das Gefühl von brennender Säure in den Augäpfeln des Seneschalls.

»Vergebt mir, mein Herr, aber wir werden reisen.« Unwillkürlich zuckte er unter dem stechenden Schmerz in seinem Kopf zusammen.

Als die Stimme wieder flüsterte, war sie leise und sanft. Der Seneschall konnte unter dem Übelkeit erregenden Hämmern im Kopf und dem Schreien der Möwen kaum die Worte verstehen.

In sechzehn Jahrhunderten hast du es nur einmal gewagt, dich mir zu widersetzen. Erinnere dich daran, wozu es geführt hat.

»Zweimal«, berichtigte der Seneschall. Vor Pein fasste er sich an die Stirn und schüttelte den Kopf wie ein Eber, der die Jagdhunde in seinem Nacken abwerfen will. Er schaute benommen in Richtung des dunklen Laderaums, in dem Faron verängstigt in seinem mitgebrachten Teich aus gleißendem grünem Wasser wartete. Er war mitten in der Nacht heimlich in weichen Tüchern an Bord gebracht worden, während die Feuer allmählich herunterbrannten und der Seewind an den Tauen zerrte. Das Entsetzen in den Augen des Kindes schmerzte ihn wieder, und Gefühle beschützender Wut erhoben sich in seiner Brust. »Erinnert Euch daran, dass ich Euch ein Weiterleben ermöglicht habe.«

Die Drohung in der Antwort war unmissverständlich.

Du erinnerst dich ebenfalls daran.

»Euer Ehren? Seid Ihr schon seekrank? Wir haben doch noch gar nicht abgelegt.«

Der Seneschall schlug heftig nach hinten aus und schickte den Mann zu Boden.

»Lass mich in Ruhe.«

Der Matrose, der schon seit langem einen starken Arm gewohnt war, erhob sich rasch vom Deck und huschte fort. Als er verschwunden war, richtete der Seneschall seine Aufmerksamkeit wieder auf die Stimme in seinem Kopf – auf den Dämon, mit dem er seine Seele teilte.

»Ich will nicht daran erinnert werden«, sagte er mit leiser Stimme und kämpfte gegen den Druck hinter den Augen an.

Du führst uns von unserem Ort der Macht weg, wo unsere Herrschaft nicht in Frage gestellt wurde.

»Man schuldet mir etwas. Es ist eine Schuld, die ich schon vor einem ganzen Leben und in einer anderen Welt abgeschrieben hatte.«

Wenn du diese Schuld vor einem ganzen Leben abgeschrieben hast, warum verfolgst du sie gerade jetzt wieder?

Der Seneschall fuhr sich mit den Fingern wütend durch die Haare, als wollte er sich die bohrende Stimme aus dem Kopf reißen.

»Vor allem weil ich es will«, spuckte er aus. »Ich werde darüber keine Rechenschaft ablegen.«

Das dunkle Feuer des F’dor-Geistes, der an seinem Innersten haftete, brannte noch schwärzer und verursachte ihm Übelkeit.

Ich sehe, dass ein Missverständnis über unsere Rollen besteht.

»Ja«, stimmte der Seneschall zu. »Auch wenn ich mir sicher bin, dass wir verschiedene Meinungen darüber hegen, wer die Regeln bricht, die wir für unser Zusammenleben aufgestellt haben.«

Die Stimme des Dämons schwieg eine Weile. Nun waren nur noch der Wind und das Meer, die Schreie der Möwen und der ferne Lärm des Hafens zu hören, der allmählich zu morgendlichem Leben erwachte. Als die Stimme wieder sprach, lag ein knisternder Unterton wie von einem Feuer in ihr – wie von zischenden Flammen unter den Kohlen.

Ich habe dir mehr Freiheit und Selbstständigkeit erlaubt, als es bei den meisten anderen mit einer Vereinbarung wie der unseren der Fall wäre.