»Allerdings.« Gwydion Navarne schoss den Pfeil ab, der den inneren Rand des äußeren Kreises durchbohrte, und trat vor Verärgerung auf den Boden. »Hrekin!«
»Aha, ein bolgischer Fluch, wenn auch ein schwungloser. Nicht schlecht.« Das Gesicht des Generals verzog sich vor Belustigung. »Kann mir gar nicht vorstellen, von wem du den aufgeschnappt hast.«
»Als Ihr und ich mit Sergeant-Major Grunthor als Ehrengarde bei Rhapsodys Krönung in Tyrian gedient haben, hat er mir viele nützliche Dinge beigebracht, zum Beispiel die Entfernung von Nissen aus Hautfalten und die Säuberung der Nasenlöcher bei gleichzeitiger Blendung eines Angreifers.«
»Aha.« Anborn räusperte sich, während Dorndreher den jungen Herzogsanwärter von der Seite her ansah. »Nun ja, man kann nie zu viele Waffen in seinem Arsenal haben, obwohl mir diese bisher unbekannt war.«
Gwydion Navarne setzte die Waffe ab, damit sich die Sehne zusammenziehen konnte. »Werdet Ihr mir mitteilen, wo Ihr wart? Oder ist diese Frage ein gesellschaftlicher Fauxpas?«
»Beides.« Der alte Krieger sah ihn von oben bis unten an. Nun lag in seinen Augen ein anderer Ausdruck als vorhin. Sein Blick war durchdringender, wurde aber durch ein tieferes Gefühl gemildert, das der Junge nicht mitbekam, denn er wandte sich wieder seinem Bogen zu. »Ich habe an der Skelettküste nach einem Blutsverwandten gesucht.«
Gwydion Navarne schaute nicht auf, als er den Bogen wieder spannte. »Oh?« Er zupfte flüchtig an der Sehne, war mit der Spannung zufrieden und sah hoch. Der ernste Ausdruck auf den Gesichtern der beiden Männer erstaunte ihn. »Stammte dieser Blutsverwandte aus der Linie Eures Vaters Gwylliam oder aus der Familie Eurer Mutter Anwyn?«
Anborn seufzte tief und blickte über die Wiese. Seine Augen waren auf kein bestimmtes Ziel gerichtet; es war, als sähen sie in eine andere Zeit.
»Weder noch. Ich meine mit diesem Ausdruck keinen gewöhnlichen Verwandten. Ich rede von einer uralten Gesellschaft von Männern, einer Bruderschaft, die in der alten Welt gebildet wurde und aus einer anderen Zeit stammt: die Brüder. Krieger. Ergebene Soldaten, welche die Kunst des Kampfes ein ganzes Leben lang geübt und sich ihr völlig untergeordnet hatten. Die Blutsverwandten schworen bei dem Wind und Seren, dem Stern, der über der Insel Serendair stand, die jetzt auf der anderen Seite der Welt unter den Wellen begraben liegt. Und sie schworen bei ihren Mitbrüdern, immer bei ihren Mitbrüdern.«
Gwydion Navarne legte ehrerbietig die Hände auf die Spitze seines Bogens und wartete auf das, was der Marschall, üblicherweise ein Mann weniger Worte, noch zu sagen hatte.
Er spürte Dorndrehers Arm auf seiner Schulter, aber er wandte sich nicht um, denn er wollte Anborns Begleiter nicht in die Augen schauen. Die Eindringlichkeit, die er in den Blicken der beiden spürte, sagte ihm, dass der General ihm gerade etwas sehr Wichtiges mitteilte. Er wollte sich des Vertrauens als würdig erweisen.
Anborn schaute über die gewellten Hügel auf die hohe Mauer, welche die Felder hinter Haguefort umgab. Zwischen den Zinnen patrouillierten Wachleute; ihre Schatten waren lang und dünn in der Nachmittagssonne.
»In gewisser Hinsicht sind alle Soldaten so etwas wie Brüder, denn sie verlassen sich auf den anderen, wenn es um ihr Leben geht. Diese Art zu leben schmiedet Bande, die auf andere Weise nicht hergestellt werden können – nicht durch Geburt oder den bloßen Willen dazu. Die Bereitschaft, für einen Kameraden zu sterben und gemeinsam an einer Sache beteiligt zu sein, die größer ist als man selbst, schafft eine Verbindung, die alle anderen übersteigt.
Nach einem solchen Soldatenleben bleiben zwei Arten von Männern übrig: diejenigen, die dankbar sind, diese Erfahrung überlebt zu haben, und diejenigen, die dankbar sind, dass die Erfahrung in ihnen überlebt hat.
Die erste Art packt am Ende des Dienstes ihre Sachen und geht nach Hause zu Hof und Familie. Diese Männer wissen, dass sie, egal was ihnen noch widerfahren wird, Teil von etwas gewesen sind, das sie nie mehr loslassen wird und das sie mit anderen verbunden hat, die sie möglicherweise nie wiedersehen werden, die aber ein Teil ihres Lebens bleiben, bis sie sterben.«
Er räusperte sich und betrachtete Gwydion Navarne eine Weile lang. »Die zweite Gruppe geht nie nach Hause, denn ihre Heimat ist der Wind. Der Wind bleibt nie länger als einen Augenblick am selben Ort, aber er ist immer da und umweht den Soldaten, wo er auch ist. Er ist sowohl flüchtig als auch treu. Der Soldat lernt, genauso zu werden. Und je mehr er wie der Wind wird, desto mehr verliert er das Gefühl für sich selbst. Natürlich hat jeder dienende Soldat, der täglich sein Leben nicht nur für die Kameraden und seinen Anführer, sondern auch für all jene aufs Spiel setzt, die er nicht sieht, kaum mehr ein Bewusstsein seiner selbst.
Die Blutsverwandten waren eine Elite von Männern, die auf diese Weise lebten. Sie wurden aus zwei Gründen in die Bruderschaft aufgenommen: unglaubliches, in einem ganzen Soldatenleben erworbenes Geschick und die selbstlose Art, anderen zu dienen und die Unschuldigen zu schützen, auch wenn dabei das eigene Leben in Gefahr geriet.«
Er nahm dem jungen Mann den Bogen aus der Hand, änderte die Einstellungen ein wenig und untersuchte die Sehne. »Dein Einlegepunkt ist zu hoch«, sagte er. Er winkte Dorndreher zu, der wortlos einen weißen Langstreckenbogen aus Gwydion Navarnes am Boden stehenden Köcher nahm und ihn ihm übergab. Der General strich über das Holz des Schaftes und hob die Augenbrauen.
»Guter Pfeil«, sagte er mit widerwilliger Bewunderung. Er legte ihn ein und gab den Bogen dem jungen Mann zurück.
Gwydion nickte schweigend.
»Wenn jemand das Recht erwirbt, ein Blutsverwandter zu sein, ist es der Wind selbst gewesen, der ihn erwählt hat«, fuhr Anborn fort und beobachtete ihn eingehend. »Die Luft ist wie das Feuer, die Erde, das Wasser und der Äther ein uranfängliches Element, eines der fünf, aus denen sich die Welt zusammensetzt, aber es wird oft übersehen. Seine Stärke wird immer unterschätzt und selten erkannt, aber sie ist beachtlich. In ihrer reinsten Form ist die Luft lebendig, und sie kennt die Ihren – die Blutsverwandten, die auch Brüder des Windes heißen. Serendair war ein sehr magischer Ort. Dort wehte der Wind frei und stark. Leider befindet sich Nordland, der Geburtsort dieses Elements, von hier aus gesehen auf der anderen Seite der Welt; daher ist der Wind hier nicht so stark wie dort. Wenn ein Mann zu einem Blutsverwandten wird, hört er den Wind in seinen Ohren und in seinem Herzen wispern und ihm seine Geheimnisse erzählen, ob dieser Mann seine Berufung nun durch lebenslangen Dienst oder einen einzigen Augenblick des selbstlosen Opfers erworben hat. Er kann diese Geheimnisse nutzen, um sich im Wind zu verstecken, mit ihm zu reisen oder ihn um Hilfe zu rufen. Der Ruf des Blutsverwandten ist der zwingendste Ruf, den ein Mann je hören kann. Er umgarnt die Seele, reicht bis tief ins Herz und verlangt eine Antwort. Er wird nur unter den schrecklichsten Umständen benutzt, wenn der Blutsverwandte, der ihn ausstößt, spürt, dass er an der Schwelle des Todes steht und sein Tod über ihn hinaus schlimme Auswirkungen haben wird. Und kein Blutsverwandter, der diesen Ruf hört, würde ihn unbeachtet lassen, denn dann wäre er bis zum Ende seiner Tage vom Wahnsinn umfangen.«
»Und Ihr habt den Ruf von der Skelettküste gehört.« Gwydion Navarne versuchte leise und ehrerbietig zu sprechen, doch die Erregung in ihm kochte über und brach die ruhige Stimmung auf der Wiese. Dorndreher sah ihn scharf an, doch Anborn nickte nur.
»Habt Ihr ihn gefunden? War der Blutsverwandte da?«
Anborn seufzte und erinnerte sich an den Klang der Wellen, die gegen den schwarzen Sand brandeten, und an den wirbelnden Nebel über dem Meer, der die Wracks aus der alten Welt umspielte, die vor vierzehn Jahrhunderten an dem zeitlosen Sand zerschellt waren. Der Wind hatte mit dem Klang der See um die Oberherrschaft gekämpft, hatte verloren und war untergegangen.