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»Ich habe nichts gehört, aber ich spüre eine Veränderung in der Luft«, sagte Rhapsody und wischte sich die Haare aus dem Gesicht, bevor der Wind sie wieder dorthin blies. »Ich habe noch nie den Ruf eines Blutsverwandten im Wind gehört, Anborn. Ich habe nur einmal selbst um Hilfe gerufen, und du bist gekommen. Ich war der Meinung, wenn ein Blutsverwandter ruft und ein anderer in Hörweite ist, wird er kommen; die Elemente selbst bringen ihn ans Ziel.«

Der General nickte. »So habe ich es auch verstanden.«

»Was ist also los?«

Anborn zuckte die Achseln. »Ich lebe jetzt schon tausend Jahre, Rhapsody. Auch wenn ich noch weitere tausend Jahre leben sollte, werde ich doch nicht all deine Fragen beantworten können.«

Rhapsody lächelte schwach. »Das ist allerdings wahr«, sagte sie und legte ihm den Arm auf die Schulter. »Und selbst wenn du es könntest, würdest du bestimmt nicht dein ganzes Wissen mit mir teilen. Du lässt dich ja nicht einmal herab, den Köchen zu sagen, was du zum Abendessen haben willst.«

»Dein neuer ist übrigens miserabel. Der Schweinetrank und Schiffszwieback im Bauch des Lastkahns war besser.«

Die Worte zerstoben im Wind und ließen ein Bild in Rhapsodys Kopf zurück.

»Könnte der Ruf vom Meer gekommen sein?«, fragte sie. Sie spürte, wie sich Anborns Muskeln unter ihrer Berührung leicht anspannten. »Llauron pflegte zu sagen, dass der Wind über der See manchmal Laute einfängt und sie wie auffasernde Wolle umherwirbelt. Sie fliegen auf ewig durch die Luft und werden von den Schwingungen der endlosen Wellen zerschmettert. Ist es möglich, dass du einen Ruf hörst, der von jemandem auf dem Meer kommt und der vielleicht gestern, vielleicht auch schon vor hundert Jahren ausgestoßen wurde?«

Anborn blickte finster drein. »Wenn wir über alles sprechen wollten, was möglich ist, würdest du nicht rechtzeitig in Yarim eintreffen, um mit dem Bolg-König zu reden«, sagte er barsch, doch in seiner Stimme lag unmissverständliche Zuneigung.

»Möglicherweise ist das der Grund, warum du es hörst, ich aber nicht«, meinte Rhapsody. »Vielleicht stammt der Ruf aus der Zeit vor meiner Ankunft hier, noch bevor ich zur Blutsverwandten wurde.« Ihr Gesicht rötete sich leicht in der Morgensonne. »Es fällt mir immer noch schwer zu glauben, dass ich eine bin. Schließlich habe ich keinen lebenslangen Soldatendienst hinter mir wie die meisten von euch.«

Anborn schüttelte den Kopf. »Viele Lügen werden in den Wind gesagt, aber der Wind selbst lügt nie. Du hast gerufen, und ich habe dich gehört. Was immer du getan hast, um deine Stellung zu bekommen, war ihrer wert. Manchmal ist das schwer zu verstehen.« Er kniff ihr scherzhaft in die Hüfte.

»Was sollen wir also tun?«, fragte sie, gab ihm einen Klaps auf die Hand und versuchte ihre Verzweiflung im Zaum zu halten.

Anborn zuckte erneut die Achseln. »Nichts.«

»Nichts?«

»Nichts.« Die Falten im Gesicht des Generals kräuselten sich, als er in die Sonne blinzelte; dann richtete er den Blick wieder auf die Wiesen. »Du kannst nicht die ganze Welt retten, Rhapsody. Niemand kann das. Wenn ein Blutsverwandter in Gefahr ist und gerettet werden kann, wird sich der Wind darum kümmern, dass es geschieht. Ich stehe bereit nun ja, ich sitze bereit.« Er kicherte und streichelte sanft ihr Gesicht. Dabei verweilte seine Hand ein wenig auf ihrer Wange. »Ich weiß, dass du ebenfalls bereit bist. Also werden wir abwarten und sehen, was geschieht. In der Zwischenzeit lebst du dein Leben. Geh zu dieser trockenen Ziegelstadt und überschwemme sie. Am besten ertränkst du sie. Es ist ein Ort der Trockenfäule, der es verdient, vom Wind fortgeweht zu werden. Das ist zumindest meine Meinung. Aber wenn du die Stadt wirklich retten willst, dann geh und tu es. Du kannst nicht auf das Schicksal warten. Es kommt zu dir – üblicherweise dann, wenn du nicht darauf vorbereitet bist.«

Rhapsody ergriff die Hand an ihrem Gesicht und küsste sie. Dann beugte sie sich herab und drückte dem General einen Kuss auf die Wange.

»Vielen Dank, Anborn. Bleibst du eine Weile in Haguefort?«

»Nur für kurze Zeit, aber lange genug, um die elenden Lektionen auszugleichen, die mein nutzloser Neffe dem jungen Herzog gegeben hat. Der Junge weiß nicht einmal, wie man richtig ausspuckt. Das ist doch schändlich!«

Rhapsody lachte. »Gut. Ich bin sicher, er wird ein neuer Mensch sein, wenn wir zurückkehren.«

»Darauf kannst du wetten. Ich werde vermutlich nicht mehr hier sein, um euch in der Heimat zu begrüßen. Du weißt, wie sehr ich es hasse, zu lange am selben Ort zu bleiben.«

Sie nickte. »Ja. Ich werde dich vermissen – wie immer.«

Der General winkte ihr zu. »Geh. Die Karawane war schon fast abreisebereit, als ich vor über einer Stunde hierher gekommen bin. Jetzt wartet man bestimmt schon auf dich. Gute Reise.«

Er wartete, bis sie hinter dem Kamm des Hügels verschwunden war, und sagte dann zu sich: »Und, wie immer, werde ich dich auch vermissen.«

Der Kessel

Achmed wunderte sich darüber, wie leise sich die Bolg versammelt hatten.

Die Karawane nach Yarim war während der Nacht bestückt und abreisefertig gemacht worden, damit die Morgenappelle und frühen Manöver nicht gestört wurden. Die Arbeit war in fast vollkommener Stille vor sich gegangen, was sehr beeindruckend war, denn die Wagen mit den Bohrern und Getrieben waren sieben Schritt lang und hatten jeweils vier Achsen. Es handelte sich um eine schwere und behindernde Ausrüstung, die heftig knarrte und klapperte. Die Leistung war Grunthors Ausbildung und der natürlichen Anmut des Firbolg-Körpers zuzuschreiben, der sich geschmeidig und verstohlen bewegen konnte, wenn es erforderlich war.

Achmed bemerkte, dass jene Bolg, die zur Reise nach Yarim ausgewählt worden waren, trotz ihrer großartigen Leistungen sehr nervös waren.

Die Narben von der jahrhundertealten Tradition des »Frühjahrsputzes« waren vier Jahre nach seiner Thronergreifung noch immer vorhanden. Dabei handelte es sich um ein scheußliches jährliches Ritual, in dem das machttrunkene, besser ausgerüstete und ausgebildete orlandische Heer in das Vorgebirge der Zahnfelsen ritt und ein Bolg-Dorf in Schutt und Asche legte. Die Orlander glaubten, ihre blutrünstigen Aktionen hielten die halb menschliche Bevölkerung in Schach und verhinderten, dass die kannibalischen Horden die Grenzprovinzen Bethe Corbair und Yarim angriffen.

Im Bestreben, rasch zu zerstören und heimzukehren, schienen die Soldaten aus Roland die Tatsache zu übersehen, dass sie jedes Jahr denselben Ort verwüsteten. Die Bolg handhabten die Situation meisterhaft. Sie errichteten hastig ein baufälliges Dorf und bevölkerten es mit den Ausgestoßenen der halb nomadischen Gesellschaft: den Alten und den Kranken. In Achmeds Augen war dies eine nüchterne und kluge Lösung. Sie hielt die Gruppen stark, während sie die Blutlust Rolands sättigte und die Eindringlinge davon abhielt, tiefer in die Zahnfelsen vorzudringen, wo die Bolg in Wirklichkeit lebten.

Diese Täuschung hatte Achmed schon zu Anfang davon überzeugt, dass die Rasse seines unbekannten Vaters jede Schutzanstrengung wert war.

Vom Rücken seines Pferdes sah er sie nun im Licht der Morgendämmerung, wie sie ihre Nahrungsmittel und Waffen einsammelten und die Zugpferde vor die Wagen spannten. Ochsen wären besser gewesen, aber die Tiere hätten die Reise durch das Gebirge nicht überlebt. Die Bolg scherten sich nicht um Pferdefleisch und sahen die Tiere nicht als Nahrung, sondern als Transportmittel an, was den vier unglücklichen Ochsengespannen, die Achmed vor ein paar Jahren in Bethe Corbair gekauft hatte, nicht vergönnt gewesen war. Gelegentlich sah er noch einige Bolg in den Tunneln an ihm Vorüberlaufen, die auf ihren Schutzhelmen ein Ochsenhorn trugen, meistens in Höhe der Stirn oder ganz oben auf dem Helm. Eines hatte er sogar einmal auf dem Lendenschurz eines unteren Kommandanten gesehen und den verstorbenen Ochsen im Stillen um Entschuldigung gebeten. Auch wenn die menschlichen Einwohner von Yarim zweifellos beim Anblick einer aus Osten anrückenden Kohorte des firbolgschen Heeres erbeben würden, konnten sie kaum denselben Schrecken erfahren wie die Bolg bei dem Gedanken, in einer kleinen, nur spärlich geschützten Gruppe das Kernland des früheren Feindes zu betreten. Seiner Meinung nach hatten sie den besseren Grund, sich Sorgen zu machen.