Nachdem sich Esten totenstill das Unglück länger als eine Stunde angeschaut hatte, drehte sie sich um und bedachte die versammelten Männer und Jungen mit einem gefrierenden Blick.
»Das war kein Unfall«, sagte sie leise und mit einer Besonnenheit, die Slith eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Die Gesichter der Gesellen, die nur von den ersterbenden Kohlen der Brennfeuer erhellt wurden, erblassten bei diesen Worten.
Es war unnötig für sie, dem noch etwas hinzuzufügen.
Doch auch drei Jahre später hatte man, soweit Slith wusste, noch immer keine Hinweise oder Antworten auf das Rätsel jener Nacht gefunden.
Nun war das Leben in der Ziegelei noch eingeschränkter als zuvor. Vor dem Zwischenfall war jedermann wegen der höchst heiklen Natur der Arbeiten in den Tunneln unter der Ziegelei wachsam gewesen. Nun kam der Druck der unbeantworteten Frage hinzu, wer lebensmüde genug sein mochte, Estens geheimes Graben zu verhindern, und kühn genug, etwas für sie so Wichtiges zu zerstören. Es war gleichgültig, ob die Antwort auf einen klugen und mächtigen Gegner oder nur einen besonders glückhaften Narren hindeuten würde.
Denn wie die Flüsse unweigerlich ins Meer münden, so fanden alle Geheimnisse früher oder später den Weg zu Estens Ohr.
Und Slith hatte gerade eines entdeckt.
Das Feuer in dem gewaltigen Herd im Ratszimmer hinter dem Thronraum knisterte und loderte in glühender Wut; es passte hervorragend zu der Stimmung des Firbolg-Königs.
Achmed die Schlange, das Glimmende Auge, der Erdenvertilger, der Gnadenlose und Träger einer Menge weiterer Furcht einflößender Beinamen, die ihm von seinen Bolg-Untertanen sowohl als Ehrbezeugung als auch aus Angst verliehen worden waren, beugte sich auf seinem schweren Holzstuhl vor und warf eine Hand voll Glasscherben in den Rachen des Feuers, wobei er leise bolgische Flüche murmelte. Die langen Finger seiner dünnen Hände schlössen sich wie Schraubstöcke umeinander und kamen schließlich vor der unteren Hälfte seines Gesichts zur Ruhe, das wie immer von schwarzem Tuch verhüllt wurde, während seine unterschiedlichen Augen – eines hell, das andere dunkel – in wilder Stille das Feuer beobachteten.
Omet fuhr sich geistesabwesend mit der Hand über den Bart und lehnte sich gegen die Mauer, aber er sagte nichts. Er war bekannt für seine genauen Beobachtungen und hatte schon zu Beginn seines Lebens in Ylorc vor drei Jahren gelernt, dass der König reden würde, wenn er seine unzähligen Gedanken, Bilder, Pläne, Gegenentwürfe und Eindrücke gesammelt hatte, mit denen sein schwingungsempfindlicher Körper andauernd bombardiert wurde.
Eine Störung dieses Ausrichtungsprozesses wurde im Allgemeinen nicht geschätzt. Im Gegensatz zu seinen Kunsthandwerkerkollegen, von denen viele Bolg waren, schätzte Omet das Schweigen. Nachdem er die anderen lange beobachtet hatte, wie sie unbehaglich von einem Fuß auf den anderen traten oder in der Gegenwart des Bolg-Königs nervös schwitzten, reckte und streckte er sich, beugte sich vor und hob den letzten Splitter vom Boden auf, ließ ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hindurchgleiten und hielt ihn dann vor den Feuerschein.
Der König hat Recht, dachte er. Zu dick.
Als der König schließlich die gefalteten Hände senkte, die gegen die Oberlippe gelegt gewesen waren, stand Omet auf. Er war inzwischen recht gut darin, die feinen Zeichen zu erkennen, welche eine Veränderung in der Stimmung des Bolg-Königs andeuteten, und er versuchte sie diskret seinen Gefährten deutlich zu machen. Nun räusperte er sich leise.
»Zu viel Feldspat«, sagte Omet.
Der Bolg-König blinzelte, sagte aber nichts.
Shaene, ein großer, stämmiger Keramiker aus Canderre, beugte sich vor und zupfte mürrisch an seiner ledernen Schürze.
»Goldschmalte?«, fragte er besorgt.
Der Bolg-König bewegte den Kopf nicht, doch die verschiedenfarbigen Augen richteten sich auf Omet. Omet schüttelte den Kopf.
Shaene schnaubte ungeduldig. »Dann das Glas. Was sagst du dazu, Sandy?«
Omet seufzte laut. »Nicht stark genug.«
»Pah!«, brummte Shaene und warf seinen verätzten Lederhandschuh auf den großen Tisch. Die Muskeln in König Achmeds Rücken versteiften sich.
Plötzlich wurde es still im Raum.
Rhur, ein Firbolg-Steinmetz und der einzige andere Mann neben Omet, dessen Stirn noch trocken war, erwiderte seinen Blick. »Was dann?«, fragte er. Seine Stimme wurde von dem heiseren Pfeifen verzerrt, welches für die Sprache seines Volkes charakteristisch war.
Omets dunkler Blick glitt von Shaene zu Rhur und dann zurück zum König der Firbolg.
»Wir können nicht länger so herumexperimentieren«, sagte er nur. »Wir brauchen einen Bleiglas-Experten. Einen ausgewiesenen Meister.«
König Achmed drehte den Keramikern den Rücken so lange zu, dass Omet zehn eigene Herzschläge zählen konnte. Dann stand er ohne ein weiteres Wort von seinem Stuhl auf, wobei er nicht einmal die Andeutung eines Geräuschs oder eines Luftzugs verursachte.
Als Omet annahm, dass der Firbolg-König außer Hörweite war, wandte er sich an Shaene.
»Meister Shaene, meine Familie stammt ursprünglich aus Canderre. Vielleicht waren unsere Mütter in ihrer Kindheit Freundinnen«, sagte er gelassen und in einem Tonfall, den ein Knabe von noch nicht ganz achtzehn Jahren einem älteren Mann gegenüber anschlagen konnte, ohne einen Streit heraufzubeschwören. »Zu Ehren dieser möglichen Freundschaft könntest du dich vielleicht zurückhalten, auf den Feuerstein der königlichen Geduld mit dem Stahl deiner Verwegenheit einzudreschen, während ich unmittelbar neben ihm stehe.«
Als Achmed die dunklen, in den Berg geschlagenen Hallen durchquerte, die bald von Fackelschein erhellt sein würden, verspürte er ein plötzliches Bedürfnis nach Luft.
Er folgte dem Hauptweg durch den Kessel, seinem Herrschaftssitz innerhalb des Berges, vorbei an Gruppen von Bolg-Soldaten und Arbeitern, die ehrerbietig nickten, als er vorüberging. Er machte eine kurze Pause und betrat einen der Ausgucke, die einen guten Blick über die tiefer liegende Hauptstadt Canrif boten, welche sich nun im vierten Jahr ihrer Restaurierung befand.
Ein warmer Aufwind trug eine Kakophonie von Lärm und Schwingungen herbei, welche die Arbeiten dort unten verursachten. Sie schlugen ihm gegen Arme und Stirn und wischten ihm über die Augen – die einzigen Stellen seines Körpers, die nicht von seinem Schleier verhüllt waren. Sein Hautgewebe, das Netz hoch empfindlicher Venen und frei liegender Nervenenden, die er dem dhrakischen Blut seiner Mutter zu verdanken hatte, spürte die Störungen trotzdem, wenn auch wegen der Verhüllung nur gedämpft. Es war ein unangenehmes Kribbeln, ein andauernder Strom von Reizen, mit dem der König der Bolg schon vor langer Zeit zu leben gelernt hatte.
Als er vor vier Jahren zum ersten Mal diesen Ort betreten hatte, war die gewaltige Höhle unter seinen Füßen und über seinem Kopf das Grabmal einer toten Stadt gewesen, die still in der abgestandenen, im Berg gefangenen Luft verweste. Durch die eingestürzten Hallen und verwüsteten Straßen streiften Firbolg-Banden umher, halb menschliche Wesen, die Canrif am Ende des cymrischen Krieges überrannt hatten und nun ohne das Bewusstsein des einstigen Ruhms die zerbröckelnden Tunnel besetzten. Tausend Jahre zuvor war diese Stadt ein Meisterwerk der Architektur und Triumph der Genialität gewesen, eingegraben in den Bauch der Zahnfelsen nach den Plänen und Visionen Gwylliams des Visionärs, des einzigen anderen Mannes, der innerhalb dieses abstoßenden, zerklüfteten Bergmassivs je den Titel eines Königs für sich beansprucht hatte.