Einen Augenblick lang bewegten sich die Waagschalen nicht. Dann knirschte der hölzerne Arm der Waage, die Kette rasselte, und der Seligpreiser wurde in die Höhe gehoben, bis er in ein vollkommenes Gleichgewicht mit seinem heiligen Symbol kam.
Ashe sah vom äußeren Kreis aus zu und spürte, wie ihn eine Woge des Erstaunens überspülte. Es beeindruckte ihn immer wieder, einen Menschen im Gleichgewicht mit einem winzigen Gegenstand wie einem Ring zu sehen. Es war ein deutlicher Beweis für die Macht der uralten Waage. Er dachte an ihre Geschichte und daran, wie sehr Gwylliam sie geschätzt hatte. Er hatte sie von Serendair über das Meer hergebracht und vor der Vernichtung in der Sintflut gerettet. Das war eine der wahrhaft großen Leistungen im schäbigen Leben seines Großvaters gewesen.
Nielash Mousa blieb für einen Moment reglos. Er hatte die Augen geschlossen, als ob er Stimmen lauschte, die sonst niemand hören konnte. Dann öffnete er die Augen wieder, holte tief Luft, verließ die Waage, geheiligt von der Erde, und bereitete sich auf das Wiegen der anderen vor. Er nahm sein heiliges Symbol an sich, küsste es und hängte es sich um den Hals, dann bedeutete er Lasarys, den Ring des Staates auf die westliche Schale zu legen.
»Nun gut. Ich unterstelle, dass niemand die Entscheidungen der Waage in Frage stellen will...« Er hielt inne, und als er keine Einwände hörte, fuhr er fort: »Ich lade die Parteien ein, ihre Vorstellungen zu unterbreiten. Sobald wir wissen, welche davon die Waage als richtig für Sorbold ansieht, werden wir jeden aus dieser Gruppe wiegen, der sich als Kaiser empfiehlt.«
»Was ist, wenn unsere Partei in Zweifel zieht, ob es überhaupt noch einen Kaiser geben soll?«, rief Tryfalian.
Mousa dachte einen Augenblick lang nach. »Dann wird die Vorstellung der Person, welche die Waage aus der Partei ausgesucht hat, in die Tat umgesetzt, wie auch immer sie lauten mag.« Gemurmel setzte ein. Er drehte sich zu Lasarys um und wandte sich wieder an die Versammlung.
»Wer bringt ein Symbol aus dem Heer zur Waagschale?«
Fhremus drückte seinen Stuhl vom Tisch fort und stand auf. Kurz blickte er die Mitglieder der anderen Parteien an. Dann stieg er die Stufen zur Plattform hoch. Er hielt einen Schild hoch, der in der goldenen Sonne schimmerte und auf dem eine Sonne abgebildet war.
»Das ist der Schild aus dem Regiment der Königin, aus der Truppe, welche den Thron Sorbolds seit dreihundert Jahren verteidigt«, sagte er steif. »Das Heer will nicht herrschen, sondern nur denjenigen beschützen und stützen, den die Waage als rechtmäßige Stimme des Reiches erwählt.« Er hustete und schaute dann die Versammlung an. »Falls die Waage unsere Partei aussucht, wird es eine Bestätigung der Vision sein, eine eigene Nation zu bleiben, und der Kaiser wird aus den Reihen des Heeres bestimmt werden.«
Nielash Mousa bedeutete ihm, den Schild auf die Schale zu legen. Der Kommandant küsste den Schild und legte ihn ab.
Die Schalen bewegten sich nicht. Der Schild blieb an Ort und Stelle; der Ring des Staates wog schwerer.
»Deine Weisheit ist überstimmt worden«, sagte Mousa zu Fhremus. Er nickte und nahm den Schild wieder an sich. »Aus dem Heer wird der Visionär, der Sorbold führen wird, nicht kommen. Wer ist der Nächste?«
»Ich ... wir sind die nächsten«, rief Tryfalian mit donnernder Stimme über den Platz. Er ging hinüber zur Treppe und bestieg sie, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Das einsetzende Geflüster beachtete er nicht.
»Welches Symbol bringst du dar?«, fragte Mousa.
Tryfalian hielt ein großes Siegel aus Messing hoch. »Dieses Siegel erhielt mein Großvater von der Kaiserin, damit er Handelsabkommen für die Krone besiegeln konnte«, erklärte er.
»Es ist das Symbol der Autonomie, die vorangetrieben werden wird, wenn die Schale für den Adel und die Grafen stimmt, welche die neun größten Staaten regieren. Wenn dies die Wahl der Waage ist, so wird das Reich aufgelöst. Autonomie und Freiheit wird den neun großen Provinzen gewährt, die mehr als drei Viertel der Landmasse und Bevölkerung des gegenwärtigen Staates stellen. Sie werden die anderen achtzehn in sich aufnehmen, nachdem die Bedingungen dafür in Sonderversammlungen getroffen wurden.«
Mousa nickte und deutete auf die westliche Schale. Tryfalian näherte sich ihr, kniete nieder und legte das schwere Siegel darauf ab, damit es gegen den kleinen Ring gewogen wurde.
Die Schalen regten sich sofort und warfen das schwere Siegel auf die Tribüne, wo es rasch bis an den Rand rollte. Tryfalian machte einen Sprung und wollte es davor bewahren, auf die Pflastersteine des Platzes zu fallen. Dabei landete er auf dem Bauch; das Siegel schlug ihm mit einem knirschenden Geräusch gegen die Knöchel, unter dem die Zuschauer zusammenzuckten.
»Vielleicht hat dich die Kaiserin bevorzugt, doch die Waage tut es offenbar nicht, Tryfalian!«, rief einer der unbedeutenderen Grafen spöttisch durch das Gelächter, das aus seinen Reihen drang.
»Ruhe!«, donnerte Nielash Mousa. Die Versammlung erstarrte unter der stahlharten Stimme des Seligpreisers. Gewöhnlich war Mousa ein Mann der sanften Töne und berühmt für seine Geduld. »Ihr entehrt die Waage.« Er legte eine Hand auf die Schulter des Grafen von Keltar, als dieser aufstand, warf er den unbedeutenderen Grafen einen bösen Blick zu und wartete, bis Tryfalian wieder seinen Platz eingenommen hatte.
»Wer ist der Nächste?«
Die Kaufmannschaft und die unbedeutenderen Grafen schauten einander verdutzt an. Schließlich stand Ihvarr auf.
»In Ordnung«, sagte er gereizt. »Die Kaufleute sind die Nächsten.«
Stilles Flüstern erhob sich unter den Grafen, als Ihvarr zur Waage ging; Nielash Mousa trat ihm auf der Plattform entgegen und starrte die Adligen an, bis sie schwiegen.
Ihvarr hielt eine einzelne Goldsonne hoch, eine Münze des Reiches von Sorbold, die auf der einen Seite das Antlitz der Kaiserin und auf der anderen das Symbol des Schwertes und der Sonne trug; sie war größer und schwerer als eine Goldkrone aus Roland.
»Diese einfache Münze ist das Symbol des Handels in Sorbold«, sagte er. Seine strahlende Händlerstimme erfüllte den Platz. »Sie stellt Reichtum und Macht des Handels in Sorbold dar:
Schifffahrtslinien, Minen und die in der ganzen Welt bekannten Leinenwebereien. Die Kaufleute wollen nicht über Sorbold herrschen, aber die Einheit der Nation beibehalten. Die Männer, die über die Meere und durch die Länder ziehen und den Handel vorantreiben, sind das Lebensblut Sorbolds. Für sie spreche ich.« Er warf die Münze lässig auf die Schale.
Langsam bewegte sich die Waage, und die Schale hob vom Boden ab.
Der Arm stieg in den tintigen Himmel, hob die Münze und brachte sie in ein Gleichgewicht mit dem Ring des Staates.
Ihvarr zuckte zurück, als sei er geschlagen worden. Er schaute hastig hinüber zu Talquist, der gleichermaßen erstaunt war, und dann zum Seligpreiser, der ernst nickte.
»Nimm die Münze aus der Schale«, befahl Mousa.
Rasch gehorchte der Kaufmann.
»Da muss ein Fehler vorliegen«, flüsterte Tristan Steward Ashe zu und verlieh damit den Gedanken und Bemerkungen zahlloser anderer in den einzelnen Parteien und unter den Gästen Ausdruck.
»Sicherlich kommt der nächste Kaiser nicht aus der Kaufmannschaft?«
Ashe bedeutete ihm mit einer Handbewegung, still zu sein. »Warum nicht?«, flüsterte er. »Du kennst doch die Arbeit eines Staatsoberhauptes. Die Hälfte der Zeit verbringt er mit geisttötendem Erstellen von Tarifen und Getreideabkommen. Diese Leute leben dafür.« Er holte tief Luft und dachte an Rials Worte über den Sklavenhandel. »Wenn die Waage ihre Handlungen beobachtet, stellen sie vielleicht den ungesetzlichen Handel mit menschlichem Blut ein, damit sie nicht den Zorn der Dunklen Erde auf sich ziehen.«
Der Seligpreiser hob die Hand, um die Aufmerksamkeit der Menge zu erlangen. »Wir werden das Symbol der Kaufmannschaft erneut wiegen, damit es keinen Zweifel geben kann«, sagte er. »Ihvarr, lege die Münze wieder in die Schale.«
Der östliche Kaufherr tat, wie der Seligpreiser ihm befohlen hatte. Abermals hob die Waage die Münze hoch in den dunkelnden Himmel, als ob sie sie verherrliche, und pendelte sich dann zu einem vollkommenen Gleichgewicht mit dem Ring des Staates ein.