»Natürlich.« Rhapsody streckte die Hand nach den Bändern aus und schluckte rasch, als sich ein weiterer Anfall von Benommenheit ankündigte. Sie blinzelte heftig und versuchte den Schwindel zu unterdrücken. Sie fuhr mit den Händen an Mellys Haar entlang und glättete es.
»So«, sagte sie, als der Schwindel sie verließ. »Wie gefällt dir das?«
»Großartig!«, erwiderte Melisande, drehte sich um und umarmte sie. »Vielen Dank. Ich wünschte, die lirinische Friseuse würde mir beibringen, hübsche Muster ins Haar zu flechten, so wie du es kannst.«
»Ich fürchte, ich war eine schlechte Schülerin«, meinte Rhapsody und drückte einen Kuss auf den Kopf des Mädchens. »Du solltest einige ihrer Frisuren sehen. Einmal habe ich bei einem Treffen mit dem Botschafter der See-Lirin eine genaue Zeichnung der trianischen Küstenlinie im Haar gehabt.« Das junge Mädchen kicherte. »Wenn du das nächste Mal mit mir in die lirinischen Länder reist, werde ich sie bitten, es dir auch beizubringen. Komm jetzt. Hilf mir, deinen Bruder zu finden.«
Melisande streckte die Hand aus und schlang einen Arm um Rhapsodys Hüfte, um sie zu stützen. Gemeinsam schlenderten sie durch den Vordereingang von Haguefort, vorbei an den Mauern aus rosig-braunem, mit Efeu bewachsenem Stein, und ließen sich auf der Treppe Zeit. Die Geräusche aus der Ferne verrieten Rhapsody, dass der Wagen und die Eskorte bereit zur Abreise waren. Sie hörte die Fahrer, die kaum mehr als huschende, ferne Schatten waren. Sie riefen sich etwas zu, trafen letzte Vorbereitungen, und das Quietschen von Türen zeigte an, dass der Wagen beladen wurde.
»Ist Gwydion hier?«, fragte sie ein wenig besorgt und suchte den grünen, verschwimmenden Horizont nach ihrem Adoptivenkel ab.
»Hinter dir«, ertönte eine Stimme, die tiefer war, als sie hätte sein sollen, und leicht brüchig klang. Rhapsody drehte sich um und lächelte den verschwommenen Umriss vor ihr zärtlich an.
»Ich hatte befürchtet, du wärest so in dein Bogenschießen vertieft, dass du vergisst, mir Lebewohl zu sagen.«
»Niemals«, meinte Gwydion Navarne ernst. Sie breitete die Arme aus, und er warf sich unbeholfen an ihre Brust. Er drückte sie so vorsichtig, als könne er sie zerbrechen.
»Ich bin nicht aus Glas, Gwydion«, sagte sie, als Melisande fortlief, um sich den Wagen anzuschauen.
»Mach dir bitte nicht so viele Sorgen.«
»Das tue ich nicht.«
»Unsinn, du lügst. Ich erkenne es an deiner Stimme.« Sie legte ihm eine Hand auf die Wange. Die weiche, jungenhafte Haut war durch die Stoppeln des beginnenden Bartwuchses aufgeraut. »Sage mir, was dich bedrückt.«
Gwydion schaute fort. »Nichts. Ich mag es nicht, wenn du fortgehst. Besonders nicht in einem Wagen, und erst recht nicht, wenn ich dich nicht begleiten darf.«
Rhapsody atmete tief ein und hielt die Luft an. Sie verfluchte sich für ihre Gedankenlosigkeit. Gwydions Mutter war gnadenlos ermordet worden, nachdem sie ihrem siebenjährigen Sohn einen Abschiedskuss gegeben und sich mit ihrer Schwester auf den Weg in die Stadt Navarne gemacht hatte, um ein Paar robuste Schuhe für die ein Jahr alte Melly zu kaufen. Rhapsody erinnerte sich erst jetzt wieder an diese Umstände, obwohl sie jedes Mal, wenn sie nach Tyrian oder anderswohin reiste, Gwydions Widerstreben beim Abschied bemerkt hatte.
»Ich werde zurückkommen und dir beim Schießen mit den neuen Pfeilen zusehen«, versprach sie und fuhr ihm mit der Hand über den Arm, als wolle sie ihn wärmen. »Gefallen sie dir?«
Der Junge zuckte die Achseln. »Ich habe erst einen benutzt, und er war gut. Ich spare sie auf, damit du und Ashe sehen könnt, wie ich sie beim Turnier gebrauche.«
»Wunderbar!«, sagte sie freudig. Ihr Ton verriet nichts von der Übelkeit, die sie wieder befiel.
»Bringst du mich zum Wagen? Du weißt, wie sehr Anborn es hasst, wenn er warten muss. Er wird jeden Augenblick nach mir rufen.«
»Lass ihn doch warten«, sagte Gwydion, dessen gute Laune allmählich zurückkehrte. »Er wird sowieso rufen. Vielleicht gibst du ihm einmal einen wirklichen Grund dazu.«
»Da steht ein silberner Kübel mit Eis drin!«, rief Melisande verwundert von der Straße her. »Und er sieht aus wie ein Ritterhelm. Und da sind Kirsch- und Zitronentörtchen!«
Gwydion Navarne trat Rhapsody einige Kiesel aus dem Weg. »Bestellst du der Drachin schöne Grüße von mir?«
»Das werde ich tun. Ich bin sicher, dass sie sich darüber freut. Sie ist recht freundlich und hat einen bemerkenswerten Sinn für Humor.«
»Das bezweifle ich nicht«, sagte Gwydion und bot ihr seinen Arm an. »Wenn sie das nicht hätte, würde die Bevölkerung des westlichen Roland schon mit dem Kopf nach unten im größten Räucherhaus nördlich von Gwynwald hängen und langsam zu Schinken trocknen.«
Rhapsody legte die Hand vor den Mund. »Oh«, murmelte sie und eilte an die Mauer der Festung. Der junge zukünftige Herzog wandte sich ab und kratzte sich linkisch am Kopf.
»Ich kann es kaum erwarten, bis ich wieder wie früher mit dir reden kann«, sagte er reumütig. »Es tut mir so Leid.«
»Ich kann es ebenfalls kaum erwarten«, sagte sie nach einem Moment und griff nach seinem Arm.
»Vielleicht kennt Elynsynos einen Weg, der mich wieder zu meinem alten Selbst führt.«
»Ach, ich weiß, wie du es anstellen musst, damit du nicht mehr lange so leiden musst.«
»Oh! Was muss ich tun?«
In den Augen des Jungen funkelte es ausgelassen.
»Halte dich beim nächsten Mal von Ashe fern.«
Die Straße nach Gwynwald führte eine Weile durch eine Mischung aus spärlichen Gehölzen und offenen Feldern, bevor sie in den dichteren Wald drang.
Die Sommersonne stand hoch am Himmel, doch im Wald war es kühl; das Licht zitterte durch das Wagenfenster wie durch Webmuster. Rhapsody lag gegen die Kissen gelehnt und döste. Sie genoss das Gefühl der sanften Brise auf ihrem Gesicht.
In den drei Tagen, die seit der Abreise aus Haguefort vergangen waren, hatte sich ihr entkräftigender Zustand gebessert. Obwohl ihr manchmal übel und sie oft unsicher auf den Beinen war, beschränkten sich die Symptome zumeist auf verschwommenes Sehen und eine plötzliche Störung des Gleichgewichts, selbst wenn sie saß oder lag. Noch ein paar
Tage, und ich werde bei Elynsynos sein, tief im stillen Innern ihrer Höhle am Rande der unterirdischen Lagune. Bei diesem Gedanken lächelte sie.
Das Rumpeln der Wagenräder, das gedämpfte Klappern der Pferdehufe, das gelegentliche Zwitschern eines Vogels, das bis hinter die Vorhänge drang, die Geräusche einer glückhaften Reise vereinigten sich zu einer besänftigenden Harmonie. Es war ein Gefühl des Friedens.
Sie hörte, wie vor dem linken Fenster ihr Name gerufen wurde. Es war Anborns Stimme, und sie klang beinahe fröhlich. Obwohl er es angeblich hasste, an einen Ort gebunden zu sein oder ein Ziel zu verfolgen, das nicht sein eigenes war, schien der General recht zufrieden zu sein, mit einem kleinen Garderegiment durch einen der grünsten und schönsten Wälder des Kontinents zu reisen.
»Hallo da drinnen«, rief er. »Lebst du noch, Rhapsody?«
Sie rückte ans Fenster und streckte den Kopf heraus.
»Erkläre ›Leben‹.«
»Aha. Sie lebt!«, sagte der General fröhlich zu seiner Truppe, den acht Soldaten und zwei Fahrern, die sie begleiteten. »Mach dir von Zeit zu Zeit die Mühe, uns davon zu überzeugen, dass du noch unter den Lebenden weilst.«
»Entschuldigung«, sagte Rhapsody freundlich. Sie schloss die Augen und genoss das Gefühl der starken Brise, die von den grünen Blättern des Waldes gekühlt wurde und ihr über das Gesicht und durch die Haare fuhr. Die andauernde Bewegung und der steife Wind verschafften ihr ein ähnliches Gefühl wie am Meer. Es tat ihr wohl.
Anborn ritt nahe an den Wagen heran. »Willst du zum Mittagessen anhalten?«
Rhapsody öffnete die Augen und lächelte unwillkürlich. Außer dem hochlehnigen Sattel, der ihn stützte, sprach keinerlei Anzeichen dafür, dass dieser Mann seine Beine nicht mehr gebrauchen konnte. Seine Lahmheit fiel auch deshalb kaum auf, weil alle Sättel seiner Soldaten ähnlich ausgestattet waren, sodass der General nach Belieben jedes Tier reiten konnte. Auf dem Pferderücken wirkte er so gesund und beeindruckend wie damals, als sie ihn zum ersten Mal gesehen und er sie auf dieser selben Waldstraße beinahe Überritten hätte.