Das schwankende Mondlicht spiegelte sich in den goldenen Schalen wider, die groß genug waren, um jeweils einen Karren mit zwei Ochsen zu tragen. Er betrachtete nachdenklich die Mitte der Pfanne und die feinen Linien, die in das Metall getrieben waren. Die Oberfläche war von Zeit und Wetter gezeichnet und leuchtete aus sich selbst heraus. Dies war die Geburtsstätte vieler neuer Anfänge gewesen. Er öffnete die linke Hand.
In ihr befand sich ein Gewicht, das wie ein Thron geformt war.
Das Schnitzwerk an dem Gewicht war bewunderungswürdig. Der kleine Thron war Linie für Linie, Winkel für Winkel, Verzierung für Verzierung dem Thron von Sorbold nachgebildet – bis hin zum Bild des Schwertes und der Sonne, welche den alten Sitz der Macht schmückten, den nun die Kaiserinwitwe innehatte.
Doch noch bemerkenswerter war das Gestein, aus dem das Gewicht bestand. Es fühlte sich selbst in der Hitze dieser Wüstennacht kühl an und war von Grün und Purpur, von Braun und Karmesinrot durchzogen.
Es summte vor Leben.
Vorsichtig setzte der Mann das Throngewicht in die westliche Waagschale. Dann ging er mit abgemessenen Schritten um das massige Gerät herum und stellte sich vor die östliche Waagschale. Er öffnete die rechte Hand.
Das flüchtige Mondlicht war nun verschwunden. Zunächst hüllte Finsternis den Gegenstand in seiner Hand ein. Nach einem Augenblick leuchtete er auf dem unregelmäßigen Oval in violetter Farbe, als treibe ihn Neugier um, doch als sein Licht die Oberfläche berührte, schien sie wie vom Schein tausend winziger Kerzen aufzuleuchten. In die vom Alter geglättete Oberfläche war eine Rune aus der Sprache einer Insel eingeritzt, die schon lange unter den Wogen des Meeres lag.
Es war eine Waage anderer Art.
Mit höchster Vorsicht legte er sie auf die leere Schale und wunderte sich über die Wellen aus violettem Licht, die sich zum äußeren Rand kräuselten, als wären sie von einem Kiesel verursacht, der in ruhiges Wasser geworfen wird.
Der Dolch des Mannes, den er vor einem Augenblick noch an der Seite getragen hatte, glitzerte in der Dunkelheit auf.
Er rollte den Ärmel seines Belaque hoch und zog über den Handrücken eine rasche, dünne Linie, die sich schwarz von der Düsternis abhob. Dann bückte er sich und hielt die blutende Hand über die Waagschale.
Sieben Tropfen Blut quollen auf die Schale; er zählte jeden einzelnen peinlich genau. Dann richtete sich der Mann auf, blind gegen das Blut, das ihm in den Ärmel lief, und beobachtete die Waagschalen eingehend.
Langsam regten sie sich und zuckten dicht über dem Boden des Platzes.
Schließlich hob sich die Schale mit dem Blut, wobei das Licht des Mondes golden auf ihr schimmerte. Die Waagschalen balancierten sich aus.
Das Stück lebenden Gesteins in Gestalt des Thrones von Sorbold entzündete sich und verbrannte in einer Aufwallung von knisterndem Rauch zu Asche.
Der Mann am Fuß der Waage stand eine Weile stocksteif da, dann legte er den Kopf zurück und hob die Arme im Triumph zum Mond über ihm.
Er warf keinen Schatten.
In der tiefen Dunkelheit seiner Schlafkammer wand sich der Kronprinz im Griff verstörender Träume. Er schwitzte und rang nach Luft.
Sergeant-Major Grunthor war die ganze Nacht hindurch nüchtern geblieben.
Während des langen Heimritts zum Kessel sprach er kein einziges Wort und hob den Blick nicht vom Boden vor ihm. Er spornte sein Pferd zu einem möglichst gleichmäßigen Galopp an, denn er wollte rasch zum Machtzentrum der Firbolg zurückkehren.
Zuvor war er noch recht fröhlich, als er die Truppenlinie abritt und den Wachen auf der sorboldischen Seite der Grenze scherzhafte Obszönitäten in bolgischer Sprache zubrüllte. Mit einem breiten Grinsen winkte er den ernst dreinblickenden Wachen zu und versuchte, ihre Ablehnung zu überwinden und so unbedrohlich zu erscheinen, wie es einem siebeneinhalb Fuß großen, grünhäutigen Muskelprotz mit Hauern statt Eckzähnen eben möglich war. Das war seine Lieblingsart, eine Grenzkontrolle zu beenden.
»Hossa! Süßer! Mein Pferd will mit dir reden! Glaubt, du bist der Esel, der das Muli gezeugt hat, das es gestern Nacht bestiegen hat!« Das Licht der Grenzfeuer erhellte sein breites Gesicht, und seine makellos reinen Zähne und Hauer spiegelten das Licht des zunehmenden Mondes wider. Die Sorbolder, die dazu ausgebildet waren, nur dann loszuschlagen, wenn sie angegriffen wurden, starrten weiterhin ostwärts in die Ländereien Ylorcs und hielten unerschütterlich Wacht. Der riesenhafte Sergeant-Major zerrte an den Zügeln, zwang sein Pferd dazu zurückzugehen, und stellte sich in die Steigbügel.
»Wo wir gerade von Vätern reden ... Weißt du eigentlich, dass ich dein Paps sein könnte? Aber der Hund war auf der Treppe schneller als ich.«
Nicht ein sorboldisches Augenlid flatterte. Die Bolg-Soldaten unter seinem Kommando kicherten unterdrückt.
Ein böses Funkeln erschien im Auge des Sergeanten, als ihm eine neue Schmähung einfiel. Er zügelte sein Kriegspferd und stieg ab, wobei er immer noch die Grenzwachen verhöhnte.
»Warum seid ihr alle so wund um den Sack? Habt ihr euch in die Nesseln gesetzt oder ...«
Als er mit dem Fuß den Boden berührte, hielt Grunthor inne.
Seine Haut, die üblicherweise die Färbung von Quetschungen aufwies, wurde so bleich, dass sogar seine Männer es im schwachen Schein der Feuer bemerkten.
Er bückte sich rasch und legte die Hände auf den Boden. Es fiel ihm schwer, bei dem Getöse in seinen Ohren das Bewusstsein zu behalten. Der Lärm in seinem Inneren schüttelte ihn durch, schwächte ihn und drohte ihn vor Schmerz und Verzweiflung umzuwerfen.
Die Erde unter seinen Händen und Knien jammerte vor Entsetzen.
Das Knüpfen der Fäden
Denn jede Zeit ist ein Traum, den der Tod befreit,
Oder einer, der Neues gebiert.
1
Rot
Blutretter, Blutgeber
Liseleut
Die Mitglieder von Lord Gwydions Rat hatten sich erneut in Hagueforts reich bestückter Bibliothek getroffen und in Grüppchen zu zweit oder dritt zusammengefunden. Sitzend studierten sie Schriftstücke oder redeten leise miteinander. Wie ein Mann standen sie auf und verfielen in wohlmeinendes Schweigen, als der Herrscher und die Herrscherin eintraten.
Der Erste, der die heimgekehrte Herrin begrüßte, war Tristan Steward, der Prinz von Bethania, Rolands mächtigster Provinz. Er hatte sich allein, fern von den anderen Ratgebern, in der Nähe der Tür herumgetrieben und war Rhapsody rasch in den Weg getreten, wobei er sich höflich über dem Ring an ihrer linken Hand verneigte.
»Willkommen zu Hause, meine Herrin«, sagte er mit einer Stimme, die vom feinen Branntwein aus den Kellern Hagueforts geölt war. Das Licht aus den Laternen in der Bibliothek fleckte sein kastanienbraunes Haar und verhalf ihm zu einem rot-goldenen Glanz ähnlich dem von Ashe, obgleich es nicht dasselbe seltsame metallische Leuchten hatte, das ein Erbe des Drachenblutes war. Rhapsody küsste den Prinz auf die Wange, als er sich wieder aufgerichtet hatte. »Hallo, Tristan«, sagte sie freundlich und wand die Hand aus seinem Griff. »Ich hoffe, Madeleine und dem jungen Malcolm geht es gut?«
Tristan Stewards Augen, die ihr Grün-Blau der königlichen Linie verdankten, blinzelten, als sie Rhapsody ansahen.
»Ja, recht gut, vielen Dank, Herrin«, sagte er feierlich nach einer kurzen Pause. »Madeleine wird sich geehrt fühlen, wenn sie erfährt, dass Ihr Euch nach ihr erkundigt habt.«
»Der junge Herr Malcolm wird bald seine ersten Schritte tun«, sagte Rhapsody, als sie den Weg in die Bibliothek fortsetzte, wobei ihre Hand auf Ashes Oberarm ruhte.
»Es kann jeden Tag so weit sein. Wie freundlich von Eurer Hoheit, sich daran zu erinnern.«
»Ich erinnere mich an jedes Kind, bei dessen Namensgebung ich gesungen habe. Guten Abend, Martin«, begrüßte Rhapsody Ivenstrand, den Herzog von Avonderre, der sie anlächelte und sich knapp vor ihr verbeugte. Dann nickte sie allen anderen Ratgebern zu und setzte sich rasch auf einen leeren Stuhl am langen Tisch aus poliertem Holz, an dem Ashe und seine Berater zusammengefunden hatten. Die Herzöge von Roland und die Botschafter von Manosse und Gaematria, der Insel der See-Weisen – allesamt Mitglieder des cymrischen Bündnisses – folgten dem Herrn der Cymrer und nahmen ebenfalls wieder ihre Plätze ein.