Er drehte sich nach Westen, woher seiner Vermutung nach der Ruf kam.
Und er blinzelte.
Der Boden vor ihm hob sich. Das Gras und die Erde brachen lautlos auseinander, und die Dunkelheit unter der Oberfläche war plötzlich von hellem Licht erfüllt. Vor seinen Augen wurde das Loch tiefer und breiter. Der Wind blies hindurch, schnappte nach seinem Hemd und lockte ihn in die Tiefe. Er schüttelte den Kopf, denn er hätte sich niemals vorstellen können, dass der Wind ihn durch die Erde rief, obwohl es ihn eigentlich kaum überraschte. Er packte die Zügel des großen Pferdes und führte das Tier in den Durchgang, um den Ruf des Blutsverwandten zu beantworten.
Als sie hindurchgegangen waren, schloss sich der Tunnel genauso lautlos, wie er sich geöffnet hatte. Nichts anderes war mehr zu sehen als das üppige Weidegras, das im Einklang mit dem Atem des Windes unter der Nachmittagssonne wogte.
Anborn lag noch immer auf dem Rücken und sah zu, wie das Blätterdach des Waldes über ihm verbrannte. Die schwarzen Blätter trieben auf dem rauchgeschwängerten Wind in den unsichtbaren Himmel, während er ein Zittern in der Erde spürte. Es war ein Rumpeln, das ihm über den Rücken bis zum Hals fuhr.
Er blinzelte, als sich die dichte Wand aus Rauch über ihm und um ihn herum in der Nähe des Bodens allmählich öffnete. Helle Lichtstreifen blitzten in unregelmäßigen Abständen aus dem Waldboden auf und durchdrangen das Dunkel. Der Boden schwankte wie bei einem Erdbeben.
Langsam und mit letzter Kraft rollte sich Anborn auf die Seite. Seine mit Asche überzogenen Lider blinzelten rasch, um klare Sicht zu bekommen.
Selbst in Todesnähe spürte Anborn die Gegenwart tiefer Magie. Elementare Kräfte waren am Werk, die ihm jedes Mal gleichzeitig Ehrfurcht und Angst einflößten. In den Tagen des Krieges hatte er diese uralte Magie oft wahrgenommen; er hatte zugesehen, wie seine Eltern sie zum Bösen gewirkt hatten, und er hatte das Ergebnis gesehen. Selbst wenn sie für gute Zwecke eingesetzt wurde, wie Rhapsody und sein Neffe es manchmal taten, war sie ihm unheimlich, und nun brummte sein Geist vor nervöser Anspannung.
Er war zu schwach, um sich weiter zu erheben. Er musste liegen bleiben, während der wirbelnde Rauch und das Licht stärker wurden, doch er wusste, dass es ihm nur besser ergehen konnte, wenn ein Blutsverwandter nun auf seinen Ruf hin herbeikam.
Er glaubte eine Gestalt in dem feurigen Nebel zu sehen, die auf ihn zuschritt und anscheinend ein Pferd führte, obwohl die Umrisse verschwommen und nicht genau zu erkennen waren. Das sengende Licht aus dem Boden verschwand, und die beiden Gestalten wurden nun nur noch von dem tobenden Feuer erhellt.
Als der Blutsverwandte und sein Reittier aus dem Rauch heraustraten, kniff Anborn die Augen zusammen und versuchte sie zu erkennen. Seine Augenlider waren immer noch schwer vor Asche. Der Mann hatte ihn schon beinahe erreicht, als Anborn ihn erkannte.
Der General starrte ihn lange Zeit erstaunt an, dann rollte er auf den Rücken und seufzte, bevor er in schwaches, krächzendes Gelächter ausbrach.
»Verdammte Götter!«, keuchte er und hustete flach. »Du?«
Sein Retter runzelte die Stirn, als er sich neben den alten cymrischen Krieger kniete, und schnalzte seinem Pferd zu.
»Komisch, dass du jetzt lachst«, sagte Grunthor trocken und hielt die Zügel fest in der Hand. »Aber jedem das Seine. Kann ich dich hochheben, ohne dich noch mehr kaputtzumachen?«
Anborn nickte mit Mühe und packte den Säbel. »Muss ... Nachricht... nach Haguefort...«, flüsterte er mit brechender Stimme. »Sie ... haben ... Rhapsody.«
Die bernsteinfarbenen Augen des Riesen verdunkelten sich vor Besorgnis.
»Wo? Wer?«
Der General schüttelte den Kopf und versuchte der Ohnmacht zu trotzen. »Weiß ... nicht. Hatte ... Tysterisk.« Er machte eine schwache Handbewegung.
»Wohin sind sie gegangen?«, wollte der Sergeant wissen, während er einen Arm unter Anborns Rücken und leblose Beine schob.
»Nach Westen«, flüsterte der General. »In das ... Feuer.«
Grunthor bemerkte, wie Anborns Gesicht grau wurde.
Anborn konnte nicht mehr sprechen. Er hielt sich an dem Bogenschützen fest, der neben ihm gelegen hatte, und weigerte sich, ihn loszulassen, dann wurde er bewusstlos.
Grunthor löste Anborns Finger vom Handgelenk des Toten und legte den General über den Rücken seines Pferdes. Rasch zog er sein eigenes Hemd aus, legte es auf den Boden, wickelte den toten Bogenschützen darin ein und band ihn mit einem Seil auf dem Rücken des Pferdes fest. Kurz schaute er in das Zentrum des Infernos, stieg dann auf und hielt den sterbenden Blutsbruder vor sich auf dem Pferd fest. So ritt er zum filidischen Kreis beim Großen Weißen Baum.
Als Anborn in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages das Bewusstsein wiedererlangte, schaute er in zwei der unangenehmsten Gesichter, die er sich vorstellen konnte; sie sahen lediglich etwas weniger mürrisch aus als sein eigenes.
Das erste war das seines Retters. Die grau-grüne Haut und die bernsteinfarbenen Augen im schweren Gesicht eines Firbolg waren mit einer anderen Rasse vermischt – mit Bern-gard-Blut, wie Rhapsody einmal gesagt hatte, wenn er sich recht erinnerte. Der Sergeant-Major, mit dem er einst in Rhapsodys Ehrengarde gedient hatte, schaute ihn schweigend an. Bestürzung hatte sich tief in die Ecken und Kanten seines Gesichts eingegraben.
Neben ihm stand der Fürbitter Gavin, ein ruhiger, wortkarger Waldhüter, der Vertrauter und Ratgeber von Anborns Vater Llauron gewesen war und ihm als Haupt des religiösen Ordens nachgefolgt war, als Llauron sich mit den Elementen vereinigt und seine menschliche Gestalt gegen die eines Drachen getauscht hatte. Der Ausdruck in den Augen des Fürbitters sprach weniger von persönlichen Sorgen, wie es bei Grunthor der Fall war, dafür von stärkeren allgemeinen Ängsten. Anborn verstand seine Qualen. Die Seele eines Waldhüters war mit dem Wald verbunden, und bis zu diesem Feuer hatte es keinen schöneren und magischeren Forst auf dem Kontinent gegeben als den Gwynwald. Doch nun stand er in Flammen.
Anborns Kopf fühlte sich an, als wolle er aufplatzen. Augen und Haut waren zwar durch die Tagessternfanfare vor den versengenden Flammen geschützt worden, doch sie waren rot vor Hitze und stachen fürchterlich. Er versuchte sich aufzusetzen, aber Gavin legte ihm rasch eine Hand auf die Schulter und drückte ihn wieder gegen die Kissen des Bettes, in dem er lag.
»Bleib liegen. Die Heiler haben sich um dich gekümmert, aber du bist noch schwach. Wie fühlst du dich?«
»Das ist doch völlig egal. Habt ihr sie gefunden? Gibt es eine Spur von ihr?«
»Nein«, sagte Gavin ruhig. »Das Feuer ist eingedämmt, aber Rhapsody ist verschwunden.«
»Ich will gleich Vögel nach Haguefort und Ylorc schicken«, sagte Grunthor schroff. »Was hast du mit dem Leichnam gewollt, den ich zusammen mit dir rausgezogen habe?«
»Er ist ein Zeuge«, sagte Anborn, nachdem seine Stimme wieder etwas fester geworden war. »Der Bastard hat Dorndreher zur Strecke gebracht. Allein dafür hätte ich ihn gern bei lebendigem Leibe verbrennen sehen. Aber es heißt, der Patriarch kann mit den Geistern der Toten reden. Das ist die einzige Spur, die uns zu Rhapsody führen könnte und die noch nicht zu Asche geworden ist. Ich werde dieses Stück Dreck mit nach Sepulvarta nehmen, damit der Patriarch alle nötigen Informationen aus ihm herauspressen kann.«
Grunthor nickte. »Klingt wie ’n großer Spaß. Wenn er mit ihm fertig ist, bin ich an der Reihe. Werd ihn so brutal foltern, dass er’s sogar noch in der Unterwelt merkt.« Er machte einen Schritt zurück und ging auf die Tür zu.
»Sergeant«, sagte Anborn. Seine Stimme war noch heiser vom Rauch.
Grunthor blieb stehen.
»Sag Haguefort, sie sollen einen Falken losschicken. Ein normaler Bote wird Gwydion nicht finden, falls er noch auf der Straße unterwegs ist.«
Der riesige Bolg nickte und machte wieder einen Schritt auf die Tür zu.
»Sergeant«, sagte Anborn noch einmal.
Erneut hielt Grunthor an.