»Mein Leben gehört dir«, sagte Anborn schwer, wie es bei der alten Bruderschaft der Blutsverwandten Brauch war. »Vielen Dank.«
Der Sergeant nickte, und die Spur eines Lächelns spielte um seine geschürzten Lippen. »Gut. Werd schon ’nen Weg finden, was Tolles damit anzufangen. Wollte schon immer ’nen alt-cymrischen Helden als Pissjungen im Firbolg-Heer haben.« Er ergriff das Seil, das als Türgriff diente, verließ das filidische Hospiz und schloss die Tür hinter sich.
Gavin drückte sanft Anborns Schulter. »Ich habe durch den Großen Weißen Baum Kontakt mit dem Geist des Waldes aufgenommen, sobald das Feuer unter Kontrolle war« sagte er zögernd. Der Fürbitter sprach selten, daher war es mühsam für ihn, Worte zu formen. »Falls Rhapsody noch lebt, befindet sie sich weder im Gwynwald noch im großen westlichen Wald. Dieser Wald erstreckt sich vom Hintervold bis zur neutralen Zone, Anborn. Entweder ist sie übers Meer gebracht worden oder...«
»Sprich es nicht aus«, sagte Anborn scharf. »Sie haben sie lebend entführt. Wenn sie Rhapsody hätten töten wollen, hätten sie sie vor meinen Augen mit Pfeilen voll gepumpt. Sprich es also nicht aus.«
Der Fürbitter schaute herunter auf ihn.
»Das werde ich anderen überlassen. Ich will nicht derjenige sein, der es durch Worte herbeiruft und wirklich macht. Aber du musst dich darauf vorbereiten, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen.«
Als Grunthor durch das Gelände lief, das den Großen Weißen Baum umgab, zerstreuten sich die filidischen Priester und Waldhüter und machten dem riesigen Firbolg Platz, der ein Gast ihres Fürbitters war, doch er wurde angesehen, als würde er jedem, der sich ihm in den Weg stellte, den Kopf abbeißen. Angesichts des großen Kiefers und der aus den Mundwinkeln Hervorwachsenden und bis über die Lippen reichenden Hauer war es klar, dass ein einziger Biss dazu genügt hätte. Er verließ den Wald und ging durch gepflegte Gärten, die vor wohlriechenden Blumen und Kräutern überquollen, umrundete dann die Hütte des Heilers und begab sich an den Rand der ausgedehnten kreisrunden Wiese, in der der Große Weiße Baum stand, ein Wunder, das älter als jedes andere lebende Wesen in diesem Teil der Welt war.
Grunthor sah die Zweige, noch bevor er auf die Lichtung trat. Sie waren groß und elfenbeinfarben und griffen wie gewaltige Finger in den dunkler werdenden Himmel. Es war schon eine Weile her, dass er zum letzten Mal hier gewesen war, und bei diesem Anblick verlangsamte er sofort seine Schritte und wunderte sich über die weiße Rinde, die in der Sonne glänzte, sowie über die Höhe und den Umfang. Der Stamm maß etwa fünfzig Fuß im Durchmesser, und der erste größere Ast trat in einer Höhe von mehr als hundert Fuß über dem Waldboden aus und bog sich zu weiteren Zweigen hoch, die eine gewaltige Krone bildeten, welche weit über den umgebenden Wald hinausragte.
In einer Entfernung von etwa hundert Ellen von der Stelle, wo sich die Wurzeln in das Erdreich bohrten, befand sich ein Ring aus Bäumen, einer aus jeder den Filiden bekannten Art. Die Filiden waren die Priester des westlichen Kontinents, die sich um diesen heiligen Ort kümmerten, der angeblich der letzte der fünf Geburtsorte der Zeit war, und sie pflegten den Baum, der an dieser Stelle wuchs. Hier hatte das Element der Erde seinen Ausgang genommen. Grunthor, der an dieses Element gebunden war, verspürte an dieser Stelle immer eine Woge der Macht und eine Stärke, die er in sich saugen konnte.
Er blieb stehen, bis er genug Kraft geschöpft hatte, denn er wusste, dass er sie bei dem, was ihm bevorstand, brauchen würde.
Dann begab er sich zum Vogelhaus, einem Turm, der dort errichtet worden war, wo Llaurons seltsam verwinkeltes Haus einst gestanden hatte.
Der Wächter an der Tür des Turmes, ein Waldhüter wie Gavin, trat ihm entgegen und verneigte sich leicht.
»Hol zwei schnelle Vögel, die nach Haguefort und Ylorc fliegen können«, befahl Grunthor. Der Wächter sprach leise mit der Frau, die sich um die Vögel kümmerte. Sie starrte den riesigen Bolg eine Weile an, dann eilte sie die Leiter hoch in das Vogelhaus. Kurz darauf kam sie mit zwei Tauben zurück, einer weißen und einer grauen. Sie wechselte mit dem Wächter einige Worte in einer Sprache, die Grunthor nicht verstand, und übergab ihm etwas.
»Sie fürchten sich vor ... vor Fremden, Herr«, sagte der Wächter nervös. »Wenn Ihr Eure Nachrichten hier hineinstecken wollt, werden wir uns darum kümmern, dass sie überbracht werden.« Er gab Grunthor zwei kleine Messinghülsen, die man den Vögeln ans Bein binden konnte. Der Sergeant nahm die Hülsen entgegen und warf einen Blick auf den schmutzigen Rauch, der im Osten über dem Baumkreis lag, während er die bereits abgefassten Botschaften hineinsteckte. Er schrieb noch ein paar zusätzliche Worte für Achmed, bevor er die Hülsen versiegelte. Die Ironie des Augenblicks schnürte ihm den Hals zu, als er sich daran erinnerte, wie Rhapsody ihm Lesen und Schreiben während ihrer endlosen Reise durch die Erde entlang der großen Wurzel beigebracht hatte.
Er hoffte, dass sie sich an die Kampfstunden erinnerte, die er ihr als Dank gegeben hatte. Er sah zu, wie die Vogelhüterin wieder den Turm hochstieg, bis sie die Zweige der hohen Bäume erreicht hatte, zwischen denen er errichtet war. Einen Augenblick später trat sie auf einen Balkon an der Spitze des Turms und ließ die Vögel frei. Sie drehten sofort nach Osten ab, schlugen im Gleichklang mit den Flügeln, erwischten eine warme, aufsteigende Luftströmung und flogen gemeinsam der Sonne entgegen.
Er schloss die Augen und betete, sie mögen sich beeilen.
Am Mittag verkündete der Meister des Schießplatzes das Ende der Übungen.
Gwydion Navarne seufzte entmutigt. Drei Treffer in die Mitte von zwanzig Schüssen aus dem letzten Köcher. Es war wohl gut, dass der Platz für heute geschlossen wurde. Seine Schüsse wurden beständig schlechter.
Er lockerte den Bogen, hob den Köcher auf und wollte gerade nachsehen, welche Pfeile er retten konnte, als er Gerald Owen bemerkte, der sich so rasch, wie es dem ältlichen Mann möglich war, über den weiten, Grasbewachsenen Platz bewegte. Als Gwydion seinen Gesichtsausdruck sah, ließ er Bogen und Köcher fallen und rannte auf den Kammerherrn zu.
»Was ist los?«, fragte er den schnaufenden Mann. Owen blieb stehen, beugte sich vor und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab.
»Gerade kam ... eine Nachricht... durch einen Botenvogel für den Herrscher der Cymrer«, sagte er und atmete schwer. »Rhapsody wurde gefangen genommen oder getötet.«
Der junge Mann, der bald Herzog sein würde, hörte die Worte und spürte ihre elektrisierende Macht auf seiner Haut, während sein Magen zu einem Eisklumpen wurde, doch er weigerte sich, die Bedeutung der Nachricht zu begreifen. Zu oft in seinem jungen Leben hatte er schlimme Nachrichten wie die vom Tod seiner Mutter gehört, und er hatte seinen Vater im Kampf sterben sehen. Doch das hier war zu viel.
»Es reicht«, sagte er und schaute den Kammerherrn mit leerem Blick an. »Es reicht.«
Gerald Owen legte eine Hand auf die dünne Schulter des Jungen. »Kommt mit mir, Gwydion«, sagte er mit einer Stimme, die sowohl sanft als auch befehlend klang. »Ich habe den Falkner gerufen. Wir dürfen keine Zeit verlieren; der Vogel kann im Dunkeln nicht sehen. Er muss bis Einbruch der Nacht mindestens fünfzig Meilen zurückgelegt haben, sonst kommt er zurück, ohne seine Botschaft überbracht zu haben.«
Gwydion Navarne nickte wie betäubt und folgte Gerald Owen über die dunkler werdende Wiese. Die Sonne warf kaum mehr Schatten.
31
Rhapsody wachte aus ihrem Albtraum auf, als der Seneschall das Pferd zum Stehen brachte. Während des gesamten Rittes hatte die einst jämmerlich menschliche, nun wahrhaft dämonische Kreatur, die sie als Michael in der alten Welt gekannt hatte und die nun ein lebender Leichnam war, sie unbarmherzig ausgescholten und seine Reden mit neuen Ausbrüchen von Wind und Feuer untermalt, die alles in Sichtweite verbrannten. Jedes Mal, wenn die Flammen aufstiegen, überwältigte sie der Gestank brennenden Fleisches – der unmissverständliche Geruch eines erregten F’dor. Sie hatte ihren Magen nur unvollkommen in der Gewalt gehabt, doch nun rührte ihre Übelkeit von Entsetzen her. Die Hitze des Dämonenatems im Nacken, gepaart mit den skelettartigen Händen, die ihren Körper umfassten und kosend unter ihren Kleidern umhertasteten, waren ihr bis ins Innerste zuwider und erweckten in ihr den Wunsch zu sterben.