»Ich hatte geglaubt, du seiest schon lange tot.«
Der Seneschall drehte sich um und blickte mit seinen durchdringenden blauen Augen auf sie herab, als wolle er ihre Absicht erkennen. Rhapsody zwang sich, seinen Blick zu erwidern, ohne die Verachtung zu verraten, die sie für ihn empfand und schon immer empfunden hatte, und suchte sein Gesicht nach Anzeichen für eine Veränderung ab.
Die ausgeprägten Linien des Kinns und der Wangenknochen waren dieselben wie damals, als sie ihn in der alten Welt kennen gelernt hatte, doch die Wangen waren hohler geworden. Es sah aus, als zöge sich die Haut etwas zu eng über den Rahmen des Gesichts. Wenn er aber erregt war, schien er dicker zu werden; seine hagere Gestalt setzte Fleisch an, was vermutlich an dem Dämon in seinem Blut lag. Sie hatte ähnliche körperliche Veränderungen bei Ashe wahrgenommen, wenn der Drache in ihm die Oberhand gewann.
Doch obwohl der Drache in Ashes Blut gelegentlich lüstern und kleinlich, habgierig und unumgänglich war, so war er doch ein Teil von ihm, ein Merkmal, das ihm von Großvater und Großmutter vererbt worden und durch den beinahe tödlichen Schlag eines anderen F’dor in den Vordergrund getreten war. Äußerste Anstrengungen waren unternommen worden, ihn im Land zwischen Leben und Tod, im Reich des Herrn und der Herrin von Rowan zu retten. Es war so sehr ein Teil von ihm wie die Farbe seiner Augen oder seine Fähigkeit, auf einem Pferd zu reiten, und hatte genauso viele liebenswerte wie abstoßende Aspekte.
Michaels körperliche Zeichen hingegen sprachen davon, dass ein böser Geist in sein Fleisch eingefahren war, als sei es eine Herberge oder ein Bordell, und es sich dort gemütlich gemacht hatte. Doch die Augen waren noch dieselben wie damals. Sie waren vom selben Blau, wie ein wolkenloser Sommertag, und hatten noch denselben Hang, vor unheiliger Erregung zu leuchten, und denselben unsteten Blick, der ohne Vorwarnung wie ein plötzliches Gewitter hereinbrach. Seine Augen hatten sie schon immer verfolgt.
Diese kalten blauen Augen waren nun von den Flammen der Unterwelt getönt.
»Hat dir dieser Gedanke etwas ausgemacht?«, fragte er ruhig. Sein Gesicht verriet keine Regung, doch Rhapsody glaubte unter der Maske des Dämons eine Verwundbarkeit in ihm zu erkennen.
»Ja«, sagte sie direkt und aufrichtig. Der Glaube, ihm für immer entkommen zu sein, nie wieder in sein Gesicht sehen zu müssen, war einer der wenigen angenehmen Gedanken, die sie getröstet hatte, als sie aus der Wurzel getreten war und erkennen musste, dass die Insel untergegangen war.
»Ich habe einen Weg gefunden, ewig zu leben«, sagte er einfach. »Es war dazu nötig, einen Partner zu haben.«
»Du hast dich an einen Dämon verkauft?«
»In gewisser Weise ja, aber es war in Wirklichkeit ein sehr gutes Geschäft. Ich bin kein hirnloser Wirt, Rhapsody. Ich bin es, der den Dämon beherrscht.«
Lügner, flüsterte der Dämon in seinem Kopf. Wirf mich raus und schau mal, ob du das dann immer noch behaupten kannst.
Rhapsody konnte den Dämon nicht hören, doch sie sah, wie sich Michaels Gesicht plötzlich verzerrte, und wusste, dass er mit dem Ungeheuer in ihm kämpfte. Sie stand so reglos wie möglich da und fürchtete, sein Zorn könne sich gegen sie wenden, falls sie sich nur bewegte.
»Euer Ehren! Wir haben einen Pfad hinunter zum Sandstrand gefunden«, rief Fergus von der südlichen Seite des Simses. »Wenn wir jetzt aufbrechen, können wir vor Sonnenuntergang am Strand sein. Die Beiboote sind schon auf dem Weg.«
Michael packte Rhapsodys Arm wieder fester. Unwillkürlich keuchte sie auf. Er zog sie bis zum Rand des Simses und schaute über den Ozean, der nun im rosig-goldenen Licht badete. Rhapsody blickte über das Meer. In einiger Entfernung von den Klippen unter ihr sah sie im Süden einen sandigen Küstenstreifen hinter den Felsen, wo die herankommende Flut in Brechern hereinwogte, den Strand hinaufwisperte und wieder fortrollte. Es war so anders als das wahnsinnige Donnern der See gegen den Steinwall der Küste unmittelbar unter ihnen.
Drei Beiboote waren von dem im tiefen Gewässer lauernden Schiff zu Wasser gelassen worden und ruderten sanft auf den Sandstrand zu.
»Nimm einen Bogenschützen mit und geh hinunter«, befahl der Seneschall seinem Vogt. »Wenn du unten bist, zünde ein Licht an und gib mir damit ein Zeichen. Ich will den Weg erkennen können, falls es schon dunkel ist, wenn wir uns an den Abstieg machen.« Fergus nickte, entzündete die Laterne, gab einem der Schützen ein Zeichen und verschwand zwischen den Felsblöcken, die sich bis hinunter zum Strand erstreckten.
»Worauf wartest du noch, Michael?«, fragte Rhapsody nervös. Sie war erschöpft und übermüdet; ihre Kraftreserven schwanden allmählich.
Und sie fürchtete, die Antwort schon zu kennen. Er drehte sich langsam um und schaute nachdenklich auf sie herab. Ein roter Sonnenstrahl brach durch die tief hängenden Wolken am Horizont und erleuchtete sein Gesicht. Es glühte in dämonischem Schimmer.
»Ist das nicht ein romantischer Ort?«, fragte er. Sein Grinsen wurde so breit, dass es schon bösartig war. »Uns bleibt mindestens eine Stunde, bevor die Beiboote anlanden. Das sollte genügen.« Er warf den Kopf in den Wind, der von der wogenden See aufstieg. Seine Augen funkelten vor Kraft. Dann bedachte er sie mit einem Blick, der sie entsetzte.
»Ich habe sehr lange darauf gewartet, Rhapsody. Ich habe deinen Verlust seit dem Tag betrauert, als du aus dieser Rattenverseuchten Taverne in Ostend entkommen bist, Hut und Feder oder so ähnlich hieß sie, erinnerst du dich? Ich habe meinen Diener losgeschickt, damit er dich zu mir zurückbringt, aber du bist nicht gekommen. Man sagte mir, der Bruder habe dich genommen. Stimmt das? Was ist aus ihm geworden?«
»Den Bruder ... gibt es nicht mehr«, stammelte sie. Ihre Zähne klapperten vor Furcht und Kälte, die der Nachtwind von der kalten See mitbrachte.
»Gut. Bevor wir hinunter zum Strand gehen und die nächsten sechs Wochen an Bord eines voll gepackten Schiffes verbringen, das durch die halbe Welt segelt, will ich dich hier im Wind und auf festem Boden nehmen. Du kannst dich mir nicht länger verweigern. Ich will es so heftig mit dir treiben, dass die umliegenden Felsblöcke ins Meer stürzen.« Er streichelte einige große Felsen, die nahe am Rand des Simses ein V bildeten.
Rhapsody schlang die Arme um ihre Taille; ihre Blicke flogen hin und her.
Man sollte sich vor der Vergangenheit in Acht nehmen. Sie will dich haben; sie will dir helfen.
Sie will dich vernichten.
Der Seneschall schaute sie an, und sein Gesicht verhärtete sich zu einer kantigen, bösartigen Maske.
»Es gibt kein Entkommen, Rhapsody. Du hast keine Entschuldigungen und Ausflüchte mehr. Jetzt wird es geschehen. Füge dich. Du weißt, was kommt.« Er zog seinen Mantel aus und warf ihn auf den felsigen Boden. »Schwärmt aus und schirmt den Sims ab«, sagte er zu den fünf verbliebenen Männern. Sie bildeten eine gerade Linie und blockierten den Durchgang vom Sims zum Festland.
»Licht, Herr«, rief einer der Bogenschützen. Er schaute den Pfad hinunter, auf dem der Vogt verschwunden war.
Der Seneschall warf Rhapsody mit dem Rücken zum Abgrund und dem Gesicht zu den Soldaten auf den Boden. Er ging hinüber zum südlichen Ende des Felsvorsprungs und schaute über den Rand auf die Stelle, wo ein schwaches Laternenflackern in der heraneilenden Dunkelheit hin und her schwankte.
»Fergus hat den Pfad gefunden«, sagte er zu den Männern »Gut. Also los.« Er machte einen Schritt zurück auf den Sims Gerade noch rechtzeitig, um Rhapsody an den Rand des Vorsprungs hechten zu sehen. Für den Bruchteil einer Sekunde standen er und die anderen schockiert da, als sie auf den Abgrund zusprang. Dann drang ihm ein heiserer Laut der Wut aus der Kehle.
»Halt! Haltet sie auf!«
Caius schoss. Rhapsody duckte sich vor, war nur noch wenige Schritte vom Rand entfernt. Der Pfeil bohrte sich in ihren Schwertgürtel.