Sie bog sich nach vorn, zuckte vor Schmerzen zusammen und sah, wie die Wachen auf sie zurannten. Sie schaute Michael zum letzten Mal an.
Dann warf sie sich über den Rand der Klippe ins Meer.
32
Zuerst war der einzige Laut auf dem Felsvorsprung das Heulen des Windes.
Dann, einen Moment später, hallte ein Wutschrei, der einen doppelten Ursprung hatte, über die Klippe. Es waren die rauen Töne des Dämons, die sich unmelodisch in den Zorn eines krankhaft grausamen, aus dem geistigen Gleichgewicht geratenen Mannes mischten, dem der Lohn entzogen worden war, wegen dem er den Ozean überquert hatte. Der Laut war so erschreckend, dass mehr als einer der gedungenen Söldner sein Wasser verlor.
Der Wind antwortete mit einem Wutbrüllen. Er fegte um den Sims und lockerte einen ganzen Hagel von Felsbrocken, die in großen, staubigen Wolken hinab zur schäumenden See schössen. Der Seneschall rannte zum Rand des Simses. Seine Muskeln waren bei jeder Bewegung dick wie Seile. Er spähte hinunter in die anbrandenden Wellen, die hundert Fuß unter ihm den vulkanischen Wall erschütterten. Es gab kein Zeichen von ihr. Er hatte gegen alle Wahrscheinlichkeit gehofft, sie an einem Vorsprung hängen oder auf der heftigen Tide in das Meer hinausgespült werden zu sehen, doch da war nichts als das endlose Ebben und Fluten blau-grauen Wassers, auf dem dicker Schaum trieb und das im dunklen Licht der Abenddämmerung wirbelte.
Er warf den Kopf zurück und schrie den Himmel an.
Neiiiiiiiiiüiiiiiiin!
Der Duft des Dämons, der Gestank brennenden Fleisches, stieg in den Wind auf. Die Soldaten würgten und zitterten, als Funken schwarzen Feuers durch die Luft schössen.
Nun spähten sie selbst über den Rand des Felsvorsprungs und suchten in dem verdämmernden Licht nach Spuren der Frau, doch alles, was sie sahen und hörten, war das unbarmherzige Anrennen der Brandung gegen die Felswände. Das dunkle Wasser wich allmählich von den schwarzen Klippen zurück und schäumte mit bösem Grollen ins Meer.
Der Seneschall packte sich an den Kopf und bebte, als befinde er sich im Kampf mit einem unsichtbaren Geist, der ihn angriff. Die inzwischen verängstigten Soldaten drängten sich aneinander und sahen sich Hilfe suchend um, doch in Abwesenheit des Vogtes war niemand da, der sie hätte führen können.
Schließlich richtete sich der Seneschall ruckartig auf und starrte sie an.
»Worauf wartet ihr noch?«, fragte er mit vor Wut knisternder Stimme. »Hinunter mit euch, ihr Narren! Durchkämmt den Strand und durchsucht die Felsen. Findet sie!«
»Mein Herr...«, begann einer der Bogenschützen.
Der Wind kreischte wütend auf, als der Seneschall den Arm ausstreckte und eine zornige, weite Geste in Richtung des Abgrunds machte. Eine plötzliche Brise erwischte den Mann von hinten und warf ihn über den Rand des Simses. Sein Schrei verlor sich im Wind. Die anderen mussten zusehen, wie sein Körper von den zerklüfteten schwarzen Felsen abprallte, die am Fuß der Klippen verstreut umherlagen. Die Wellen brandeten über ihn und sogen ihn einen Augenblick später in die Tiefe. Der Seneschall hatte ebenfalls zugesehen und beobachtet, welchen Weg der Körper nahm. Er drehte sich um und blickte die Männer erneut an.
»Findet sie.«
Die Männer zerstreuten sich und eilten hinunter zu der Lampe, die der Vogt vorhin angezündet hatte. Michael stand im kreischenden Wind und schaute hinunter auf die rollende See. Die Wellen wirkten wie das Gras auf den großen Wiesen, das ihn seit mehr als einem Jahrtausend an ihr Haar erinnerte und ihn mit Bildern erfüllte, deren Unerreichbarkeit sie umso schmerzhafter machte.
Dafür sind wir durch die ganze Welt gereist. Was für eine grandiose Verschwendung.
»Sei still!«, schrie der Seneschall und griff sich an den Kopf. »Foltere mich nicht mit deinen blasierten Ansichten. Du weißt nichts.«
Und ich sehe nichts – nichts als Felsen und Brandung.
Die Adern an Michaels Hals traten hervor, und sein Gesicht erhitzte sich vor Wut.
»Würdest du sie gern aus der Nähe betrachten?«, knurrte er und näherte sich dem Rand des Vorsprungs. »Ich habe das Einzige verloren, was ich im Leben haben wollte. Plötzlich wird mir das ewige Leben zur Last. Vielleicht sollten wir ihr ins Meer folgen. Würde dir das gefallen, du selbstzufriedener Parasit?«
Der Dämon verstummte.
Der Seneschall riss die Augen noch weiter auf. Er schaute hinunter in den wahnsinnigen Aufruhr des Wassers und dachte nach. Er spürte, wie ein süßer Wahnsinn ihn überkam, ein Verlangen, sich dem Wind in die Arme zu werfen, hinunterzufliegen, wie ein Senkblei unterzugehen und so durch einen raschen, erregten Sprung der Folter des Dämons und dem Schmerz über Rhapsodys Verlust zu entkommen.
Nein. Tritt zurück.
Er schüttelte heftig den Kopf. Der Schweiß spritzte von der Stirn in den reinigenden Wind.
Sie war unserer nicht wert. Sie hat dich verachtet. Hast du das etwa nicht vorhergesehen?
»Ich glaube dir nicht«, sagte der Seneschall leichthin. Doch in seiner Stimme lag etwas Bedrohliches.
»Hast du ihr Gesicht gesehen, als sie mir sagte, sie habe geglaubt, ich sei tot?«
Ich habe es gesehen. Ich habe die Verachtung gesehen.
»Nichts davon«, schnappte der Seneschall. »Du hast Reue und Verlangen gesehen.«
Du bist nicht nur blind, sondern auch bemitleidenswert.
Von unten waren bruchstückhafte Stimmen in den aufsteigenden Windböen zu hören. Der Seneschall schaute nach Süden, wo Laternen auf dem beinahe völlig dunklen Strand entzündet wurden. Die kleinen Flammen breiteten sich aus, umkreisten den Rand des Meeres, näherten sich den Felsen, wurden aber durch die Macht der Tide fortgetrieben, während sich das Licht auf dem schwarzen Wasser kräuselte.
Die Stimme des Dämons in seinem Kopf veränderte sich, nun nahm sie einen warmen und süßen Tonfall an.
Dann geh hinunter, wenn du es unbedingt tun willst. Such den Strand ab. Du wirst nichts finden.
Niemand könnte einen solchen Sprung überleben. Aber geh auf die Suche, denn vorher wirst du keine Ruhe finden. Und wenn du Frieden mit ihr geschlossen und begriffen hast, dass sie diesmal für immer gegangen ist, sollten wir zum Schiff gehen und nach Argaut zurückkehren. Zu Hause erwartet uns viel Ergötzliches.
Michael atmete leise ein und beobachtete das Meer, bis die Dunkelheit den Strand verschlungen hatte.
Komm, schmeichelte der Dämon. Wir sollten hinunter zum Meer gehen. Sieh selbst nach. Außerdem wartet Faron auf dich.
Der Seneschall nickte widerstrebend. »Ja«, sagte er laut. »Es ist Zeit.« Er schaute reuevoll ein letztes Mal auf Rhapsodys Grab aus Fels und Brandung und versuchte zu vergessen, wie sie ihn vor ihrem Sprung angeschaut hatte. Die Botschaft war unmissverständlich gewesen.
Sogar ein gewaltsamer und schmerzvoller Tod war Michaels Gesellschaft vorzuziehen.
»Hure«, flüsterte er in den Wind, der von den Felsen unter ihm aufstieg.
»Elende, brünstige Hure.«
33
Der lange Heimritt aus Sorbold vermittelte Achmed bemerkenswerte Einsichten in die Frau, die er angeheuert hatte.
Zuerst hatten ihn ihre schlanke Gestalt und das scharfkantige Gesicht sowie ihr Unmut über jede Störung bei der Arbeit oder eine ungerechte Behandlung stark an Rhapsody erinnert. Doch je länger er Theophila beobachtete, desto mehr war er über die Unterschiede zwischen den beiden Frauen erstaunt. Rhapsody war für ihn immer so durchsichtig wie Klarglas gewesen. Ihre Motive und Ziele waren offenkundig, und obwohl ihr Charakter etliche Nuancen und Feinheiten aufwies, war sie größtenteils so leicht zu lesen wie die meilenhohen Buchstaben, die von den Flüssen in die Felswände der Bergpässe im Hochland der Alten geschnitten worden waren.