Zitternd schloss er die Augen, zog den Schleier über seinem Hautgewebe fort, damit der warme Sommerwind darüberspielen konnte, und suchte nach dem vertrauten Rhythmus.
Nur der Wind antwortete ihm.
Er warf das Netz weiter aus und öffnete seinen Geist, bis das Herz vor Anstrengung pochte. Er durchstreifte jede Brise, jede Luftströmung und suchte verzweifelt nach dem geringsten Flackern und dem leisesten Anzeichen von Rhapsodys Herzschlag, einem Rhythmus, der ihm so vertraut war wie sein eigener. Er wartete lange, tastete die Luft ab, sog sie tief ein und versuchte auch die verschwindendsten Teile zu fangen.
Nichts.
Rhapsody, rief er stumm und warf ihren Namen wie ein Hetz in den Wind, dann zog er es mit seinem Geist zurück und hoffte auf ein Flackern, ein Bruchstück, auf irgendetwas.
Nichts.
Kalte Wellen der Angst stiegen in ihm auf und fielen wieder zurück. Sie nahmen ihren Ursprung bei seinem Magen und liefen bis zu den Gliedern.
Er spürte sie kaum.
Achmed änderte seinen Brennpunkt und durchkämmte den Wind. Nun suchte er nach Grunthors Herzschlag. Sofort pulsierte er in seinem Hautgewebe und schlug mit dem vertrauten Rhythmus des Lebensmusters seines Freundes. Fern hörte er das Summen der anderen etwa tausend Überlebenden von der Insel.
Nur Rhapsodys Schlag blieb verschwunden.
Achmed brach die Suche ab. Er rannte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit zu den Stallungen, wo der Quartiermeister bereits sein Pferd gesattelt hatte. Er stieg auf und ritt nach Westen in Richtung Sepulvarta, bevor die meisten Bolg überhaupt bemerkt hatten, dass er zurückgekehrt war. Einige Minuten später kehrte Omet an die Baustelle zurück, nachdem er seine Runde an den Brennöfen vorbei gemacht hatte, und fand plötzlich eine Fremde im inneren Heiligtum vor, dem am besten abgeschirmten Bereich des Bolg-Königs nach seinen eigenen Gemächern.
Als er eintrat, beriet sie sich soeben mit Shaene und Rhur und hockte neben einem Haufen aus Asche und Glasscherben. Zuerst erkannte er nicht einmal, dass sie eine Frau war. Sie war so schmächtig, ihr Haar war so kurz und ihr Verhalten so aggressiv, dass er sofort angenommen hatte, sie sei ein Mann. Dieses Fehlurteil wurde im nächsten Augenblick zerschmettert, als Shaene ihn bemerkte.
»Ah, Sandy!«, rief der einfältige Kunsthandwerker und winkte Omet herbei. »Du kommst gerade recht, um mit der Neuanstellung des Königs Bekanntschaft zu machen, einer verbrieften Panjeri-Meisterin. Theophila, das ist Sandy, unser Leidensgenosse beim Glasmachen.«
Die am Boden hockende Frau schaute auf und nickte mit unbeteiligter Miene. Die dunklen Augen richteten sich kurz auf Omet, dann setzte sie das Gespräch mit den beiden Männern fort.
»Sandy, hast du die Pläne? Der König will, dass Theophila sie bekommt.«
Bei diesen Worten sahen sowohl Theophila als auch Rhur ihn an.
Als sich ihre Blicke trafen, wurde Omet plötzlich blass. Er presste die Lippen so fest zusammen, dass die kleinen Härchen in seinem Bart zitterten.
»Also?«, meinte Shaene ungeduldig. »Hast du die Pläne oder nicht?«
»Äh, nicht bei mir«, log er und bewegte sich so wenig wie möglich. Er hoffte, dass die Zeichnungen durch die Leinwand in seinen Händen nicht sichtbar waren. »Ich habe sie bei den Öfen liegen lassen. Ich gehe zurück zur Schmiede und hole sie.«
»Um Himmels willen, verlier sie bloß nicht. Sonst wird dich der König in den Ofen stecken.«
»Wo ... wo ist der König?«, fragte Omet und fuhr sich mit der Hand durch das schweißfeuchte Haar. Shaene schaute von dem Aschenhaufen vor ihm auf. »Er hat vorhin den Berg wegen etwas Wichtigem verlassen. Hat gesagt, er weiß nicht, wann er zurückkommt.« Er bemerkte die Blässe auf Omets Haut, folgte dessen Blick und lachte.
»Mach deine Hose wieder locker, Junge. Sie ist zu alt für dich.«
Die Frau rollte mit den Augen und kehrte zum Tisch zurück. »Heute eilt es nicht mit den Plänen. Ich möchte zuerst die Öfen und Schmieden besichtigen und mir die Materialien und Werkzeuge ansehen, die ihr habt.«
»In Ordnung«, meinte Shaene.
»Entschuldigt mich«, sagte Omet rasch und schlüpfte durch die Tür.
Sobald er hinter der nächsten Ecke war, lehnte er sich gegen die Wand; plötzlich fühlte er sich schwindlig und krank.
Er kannte diese Frau, obwohl ihr Haar kurz geschnitten war und sie Kleider trug, in denen sie sich gewöhnlich niemals hätte blicken lassen.
Er hoffte, dass sie ihn wegen seines Haarschopfes und des Vollbartes nicht erkannt hatte, den er bei ihrer letzten Begegnung nicht getragen hatte.
In der Ziegelei von Yarim.
Die Welt drehte sich um ihn herum, und eine Angst, die weitaus schlimmer war als alles, das er bisher gekannt hatte, drohte ihn zu verschlingen.
Die Gildenmeisterin war nach Ylorc gekommen.
34
In dem Augenblick, als sie auf den Rand des Felsvorsprungs zuschoss, erinnerte sich Rhapsody an etwas.
Als sie das letzte Mal von Michael fortgelaufen war, hatte sie sich in Gesellschaft von Achmed und Grunthor auf den Wiesen von Serendair befunden. Sie waren auf einen Stamm nomadischer Lirin gestoßen, die als Lirinved oder die Zwischenwanderer bekannt waren, weil sie zwischen Wald und Feld hin und her reisten und an keinem der beiden Orte ihr Heim errichteten. Sie und die beiden Bolg stellten zwar für die Lirinved keine Bedrohung dar, waren aber doch Fremde in ihrem Land gewesen, und es waren schlechte Tage für Fremde. Achmed und Grunthor hatten sich mit ihr im hohen Gras der Wiesen versteckt und still die Waffen für eine Konfrontation gezogen, die niemand haben wollte, die aber möglicherweise bevorstand.
Das war der erste Augenblick gewesen, in dem sie die wahre, tiefe und unerbittliche Macht einer Benennerin und Sängerin kennen gelernt hatte, die sie durch Selbststudium und andauerndes Üben erworben hatte.
Weil sie den wahren Namen des Grases, Hymialada, kannte, in dem sie sich versteckten, hatte sie diesen Namen immer wieder geflüstert und in ihren Gesang die Namen anderer Dinge eingewoben – die Namen der Wolken, des warmen Windes, der Hügel und kleinen Täler. In gewisser Weise hatte sie die Schwingungsmuster aller drei Personen verändert und sie verhüllt, sodass sie mit dem Gras verschmolzen waren, bis sie tatsächlich zum Hymialacia geworden waren, während sie gesungen hatte. So waren sie verwandelt und verborgen worden, und der Wind hatte durch sie hindurch geblasen und die Sonne sie beschienen, doch ihre Schatten hatten nicht wie die eines Firbolg-Mannes, eines Riesen und einer Lirin-Frau ausgesehen, sondern gewirkt, als ob sie zu den Grashalmen gehörten. Die Lirinved waren so nahe an ihnen vorbeigegangen, dass sie die drei hätten berühren können, doch sie waren sich ihrer Gegenwart nicht bewusst gewesen.
Diese Macht des Benennens war das Einzige, das sie möglicherweise nun noch retten konnte. Selbst wenn dem nicht so war, musste sie es versuchen. Sie starb lieber beim Sturz von dem Felsvorsprung, als in den stinkenden Klauen eines Dämonenmenschen zu leben, der ihren Körper beschmutzte, ihre Seele marterte und, schlimmer noch, irgendwann ihr ungeborenes Kind bemerken würde.
Ihr Verstand weigerte sich vorzustellen, was er dann tun würde.
Es gab keine andere Möglichkeit.
Doch welches Wort, welcher Name konnte sie vor einem Sturz aus dieser Höhe bewahren? Ihre Gedanken rasten, als sie auf dem Boden lag. Der Stoff ihres zerrissenen Hemdes flatterte im Wind, der über die Klippen tobte, über den Felsvorsprung fuhr und ihre Haare zauste, während Michael mit seinen Männern sprach.
Salztropfen, die der Wind mit sich brachte, schlugen ihr ins Gesicht und stachen in die Augen. Zuerst glaubte sie, es sei Regen, dann erkannte sie, dass es die Gischt war, doch sofort kehrte sie zu ihrem ersten Gedanken zurück.
Regen.
Typta, flüsterte sie in der Stimme der Benennerin und spürte das Summen verschiedener Schwingungen zwischen den Zähnen.
Der Ton stimmte.
Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihren eigenen Ton, ela, und machte sich daran, ihn durch einen Rundgesang zu verändern.