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Schon beim nächsten Herzschlag war Rhapsody auf den Beinen und rannte mit aller Kraft auf den Rand der Klippe zu. Sie konnte kaum mehr atmen, doch sie sang.

Typta. Typta, Typta.

Sie spürte, wie der Wind über sie blies und sie leicht anhob wie Regentropfen in einer Aufwärtsströmung. Sie empfand die Lust der Geschwindigkeit, hörte die Rufe hinter sich, blendete sie aus und richtete ihre gesamte Aufmerksamkeit auf den Rand des Simses vor ihr.

Typta. Ty...

Sie spürte den Stoß des Pfeils in der Seite und im Rücken. Dann kam der Schmerz. Sie verlor das Gleichgewicht, und ihre Konzentration zerstob. Einen Moment später durchstrahlten sie Schockwellen. Es war eine schreckliche Entgegengesetzte Schwingung, die ihr den Atem raubte. Der Aufprall dehnte die Muskeln ihres Bauches. Rhapsody beugte sich nach vorn und versuchte durchzuatmen. Dabei sah sie Michael an der Stelle stehen, wo das feste Land in den Sims überging. Entsetzen lag auf seinem Gesicht; die Augen brannten rot an den Rändern, und die alte Haut lag wie die einer Mumie über den scharfen Knochen. Dieses Gesicht war noch viel schrecklicher als das, welches sie in ihren Träumen heimsuchte. Sein Anblick machte jede andere Möglichkeit undenkbar. Sie schloss die Augen, bevor sie sprang, denn sie befürchtete, die Nerven zu verlieren, wenn sie die donnernden Wellen und die zerklüfteten Felsen an der Küstenlinie sah. Der Wind, der sie ergriff, war kalt; er kam vom nördlichen Meer. Er machte sie wach und zwang sie, im Fallen die Augen zu öffnen. Sie wirbelte in der sorglosen Umarmung der Luft auf den Ozean zu.

Typta, sang sie, während sie fiel. Ihre Hände waren noch immer gebunden, und die Wangen verzogen sich im Luftstrom und unter der Anziehungskraft der Erde. Typta, Typta, Typta...

Plötzlich überspülte eine Welle ihr Gesicht und füllte ihr den Mund mit Wasser. Sie würgte. Den Aufprall hatte sie nicht gespürt, doch die Luft wurde aus ihr herausgepresst, sodass sie keinen Atem holen konnte, was ihr in den ersten Sekunden unter Wasser möglicherweise das Leben gerettet hatte. Brüllen aus Grün und Weiß, dann betäubende Stille, als sie unter die Oberfläche gezogen wurde, gefolgt von heftigem Trommeln wie von einem Unterwasserwind. Rhapsodys Augen brannten vom Salz und ihre Lungen vom Luftmangel. Bevor alles vor ihren Augen grün wurde, sah sie über sich die Gesichter von Michael und seiner Kohorte, die vom Rand des Felsvorsprungs hinunterstarrten, oder vielmehr glaubte sie sie zu sehen. Sie hörte die Stimmen, obwohl sie rasch im Wasser versank. Sie schauten Rhapsody direkt an.

Aber sie sahen sie nicht, obwohl sich Rhapsody unmittelbar unter ihnen befand. Denn für einen Augenblick war sie zu Regen geworden.

Die hereinströmende Flut packte sie. In den ersten Momenten war sie auf den Wellenkämmen geschwommen, war selbst zu treibender Gischt geworden, leicht wie ein Regentropfen. Doch sobald der Zauber gebrochen war, füllte sich ihr Mund mit Wasser; ihr Körpergewicht kehrte zurück und mit ihm die ganze Kraft des tobenden Meeres.

Plötzlich verwandelte sich die Welt von Grün zu Schwarz, als sei ein schwerer Vorhang gefallen.

Nicht atmen, dachte sie und kämpfte darum, in der Dunkelheit die Wasseroberfläche zu finden, doch es gelang ihr nicht. Der Lärm der Wellen klopfte gedämpft in ihren Ohren.

Dann wurde sie von einer schweren Strömung erfasst, wild umhergewirbelt, kämpfte um Halt, fand keinen, nichts, woran sie sich hätte festhalten oder wogegen sie sich hätte drücken können, nichts als flüchtiges Wasser, das ihr durch die Hände glitt. Sie verspürte Übelkeit; es war, als werde sie durch die Luft gewirbelt, nur noch schlimmer. Sie taumelte und tanzte mit dem Wahnsinn der Wellen. Bis sie gegen eine feste Felswand geschleudert wurde.

Gegen ihren Willen keuchte Rhapsody auf und atmete dabei einen Schwall beißenden Meerwassers ein. Bevor ihre Lunge platzen konnte, durchbrach sie plötzlich die Oberfläche, würgte, spuckte, klammerte sich verzweifelt an die steil abfallende Felswand vor ihr, die so hoch reichte, wie sie tasten konnte.

Über ihr war gerade noch genug Platz, um die Nase und den oberen Teil des Kopfes aus dem Wasser zu strecken; darüber fühlten ihre gefesselten Hände eine waagerechte Felswand. Sie bemerkte beiläufig, dass sie blutete, als die Wellen ihren Kopf gegen die harte Decke über ihr schlugen. Ihre Seite stach dort, wo der Bogenschütze sie getroffen hatte.

Der Lärm der See nahm etwas ab. Nun hallte er im Dunkel und brüllte mit der Tide, aber es war nicht mehr das berstende Geräusch, das sie von der Klippe aus gehört hatte. So war es jedoch nur, wenn sich ihre Ohren oberhalb des Wasserspiegels befanden. Mit jeder neuen Welle wurde sie wieder untergetaucht; sie hörte nichts als das gedämpfte Rauschen und das Geräusch von aufsteigenden Blasen im Wasser.

Wie lange sie in der Dunkelheit herumgeworfen wurde und immer wieder nach Luft schnappen musste, wusste Rhapsody nicht, doch es schienen Stunden zu sein, Tage, Jahre, eine Folter von ewiger Dauer. Ihre Haut stach vom Salzwasser, ihre Glieder wurden müde, und sie gab es auf, in Bewegung bleiben zu wollen. Stattdessen trieb sie auf dem Wasser und versuchte die Panik zu unterdrücken, die sie mit jeder Welle überspülte und ihre Lunge quetschte.

Schließlich schien es so, als werde der Luftraum über ihr größer. Nach einiger Zeit brach Licht durch die Dunkelheit hinter ihr. Es war ein kleines, weißes Stück Himmel, das sie mit ihren brennenden Augen kaum erkennen konnte. Mit jeder rollenden Welle wurde es größer, und schließlich befand sich über ihr ein großer Zwischenraum. Das Licht zeigte ihr, wo sie sich befand.

Sie war auf einer Welle in eine Höhle gespült worden, eine vulkanische Ausbuchtung in den endlosen Klippen, welche die Küstenlinie vom nördlichen Hintervold bis zu ihren eigenen, ein Halbtausend Meilen entfernten Ländereien bestimmten. Rhapsody schluckte die Ironie herunter. Es war genau eine solche Höhle, die ihrer Meinung nach die Quelle für die Entudenin bildete.

In der hinteren Höhlenwand sah sie einen schmalen Sims, der über die Jahrtausende von der langsamen, beharrlichen Strömung herausgemeißelt worden war. Sie ließ sich von der nächsten Welle dorthin tragen und klammerte sich mit aller Kraft daran fest, als sie gegen die hintere Höhlenwand geschleudert wurde. Sie benötigte drei Versuche, um sich auf den Sims zu rollen und dort zu bleiben, nachdem sich die Welle zurückgezogen hatte. Als es ihr schließlich gelang, aufrecht und mit dem Rücken gegen die glatte, unregelmäßige Höhlenwand gelehnt zu sitzen, versuchte sie ihre Lunge von der Sole zu reinigen, die sie eingeatmet hatte. Der Magen drehte sich ihr dabei um, und sie musste sich übergeben. Sie war froh, das Salzwasser los zu sein.

Benommen griff sie nach dem Medaillon um ihren Hals. Es hing noch an der Goldkette. Hustend öffnete sie den Verschluss, und die kleine dreizehnseitige Kupfermünze, die Ashe ihr in gemeinsamen Jugendtagen gegeben hatte, fiel auf ihre Handfläche. Sie seufzte erleichtert auf. Es war, als sei mit der Münze auch ein Teil von Ashe bei ihr. Rhapsody legte sie rasch wieder in das Medaillon und machte sich daran, weiter die Lunge zu säubern.

Als sie wieder durchatmen konnte, schaute sie zur Öffnung der Höhle. Das Licht, das sich über die wirbelnden Wellen in sie ergoss, war rosafarben. Die Morgendämmerung, dachte sie. Ich bin die ganze Nacht hier gewesen. Nun setzte die Ebbe ein und leerte die Höhle ein wenig, auch wenn sie den Boden im tobenden Wasser unter ihrem Sims immer noch nicht sehen konnte.

Risa hilue, flüsterte sie in der Sprache der Liringlas, der Sternensänger, des Volkes ihrer Mutter, das die aufgehende und die untergehende Sonne mit Gesang begrüßte. Willkommen, Sonnenaufgang.

Das aufgewühlte Meer antwortete mit unbarmherzigem Grollen.

Als die einsetzende Ebbe die Beiboote zurück zur Basquela brachte, blinzelte Fergus, der Vogt des Seneschalls, in das rote Licht und versuchte, seinen Meister ständig im Blick zu behalten. Von dem Zeitpunkt an, als sie abgelegt hatten, hatte der Seneschall nichts mehr gesagt, sondern nur hinter ihm gestanden und in Totenschweigen auf die Küstenlinie unter der aufgehenden Sonne gestarrt. Die Morgenlaute des Meeres – der Schrei der Möwen, die Musik des Windes – blieben unbeachtet, die himmelblauen Augen des Justizministers waren glasig und leer. Fergus wusste, dass er den Seneschall nun nicht mit müßigen Gesprächen oder Besänftigungsversuchen belästigen durfte. Er lenkte die Ruderer auf die Fregatte zu; das Boot glitt unter sanften und ruhigen Stößen dahin. Als ihr Boot endlich das Schiff erreichte, gab der Vogt der Mannschaft ein Zeichen, denn er wollte dem Seneschall so viel Zeit wie möglich verschaffen, bevor er mit dem Erklettern des Fallreeps seine Suche endgültig aufgeben würde. Schweigend stand er hinter seinem Herrn, der das Reep ergriff, aber nichts sagte, sondern zu den fernen, nebelverhangenen Klippen blickte, die eine glatte und unerschütterliche Wand unter der hellen, aufgehenden Sonne bildeten.