Als Stephen nun auf dem Balkon hinter den Fenstern seiner riesigen Bibliothek stand, betrachtete er die neue Steingrenze mit schweigendem Entsetzen. Früher war der Blick in die Landschaft ungehindert gewesen, doch nun wurden die ehemals unverdorbenen Wiesen und Weiden von diesem hässlichen Bollwerk mit seinen ernsten Wachtürmen und Zinnen verschandelt.
Statt des weiten, leuchtenden Horizonts aus Schnee zog sich nun eine scharfe, schlammige Trennlinie im Land um seine Festung. Von Anfang an hatte er um dieses Ergebnis gewusst. Aber es war eines, es zu ahnen, und ein anderes, es schließlich mit eigenen Augen zu sehen. Das Winterfest musste sich auf die neue Wirklichkeit Rolands und seiner Nachbarn einstellen: auf die grimmige Erkenntnis, dass unerklärliche und unvorhersehbare Gewalt allerorts überhand nahm. Der schiere Wahnsinn hatte mehr als nur Stephens Felder heimgesucht. Er hatte sein Leben zerrissen, ihm seine junge Frau und den besten Freund, Gwydion von Manosse, genommen und unter seinen Untertanen viele Leben gefordert.
Und er hatte Stephen das Gefühl der Glückseligkeit geraubt. Es war nun fünf Jahre her, dass Stephen eine ganze Nacht lang erholsam geschlafen hatte.
Am Tag war es einfach. Eine endlose Reihe von Aufgaben beanspruchte seine Aufmerksamkeit; außerdem kümmerte er sich um seinen Sohn und seine Tochter. Sie waren die größte Freude in seinem Dasein und für ihn so lebenswichtig wie Sonne oder Luft. Er kämpfte nicht mehr um seine Glückseligkeit wie kurz nach dem Tode Lydias.
Nur nachts fühlte er sich traurig und entmutigt, wenn er seine Kinder in Decken aus wärmsten Eiderdaunen gesteckt, neben Mellys Bett gewacht hatte, bis sie eingeschlafen war, und in der tröstenden Dunkelheit Gwydions Fragen über Leben und Mannsein beantwortet hatte. Jede Nacht fanden die Fragen schließlich ein Ende und wurden ersetzt durch leises, rhythmisches Atmen, und der süße Atem des Kindes wurde zu dem salzigeren eines jungen Mannes an der Schwelle des Erwachsenseins. Stephen genoss diesen Augenblick, wenn der Schlaf seinen Sohn zu den Abenteuern des Traumes fortgeleitete; dann stand er widerstrebend auf, bückte sich, küsste Gwydion auf die glatte Stirn und wusste, dass er dies bald nicht mehr tun konnte.
Unabwendbar durchfuhr ihn dann die Traurigkeit, während er zu seinen eigenen Gemächern zurückkehrte, zu dem Raum, in dem er und Lydia geschlafen, sich geliebt und in ihrem unvergleichlichen Glück vielerlei Pläne geschmiedet hatten. Gerald Owen, sein Kammerherr, hatte nach dem blutigen Anschlag der Lirin, der Lydia das Leben gekostet hatte, in freundlicher Sorge angefragt, ob er ein anderes der vielen Schlafzimmer Hagueforts für Stephen herrichten solle, doch Stephen hatte mit derselben Freundlichkeit abgelehnt, die er immer walten ließ. Woher sollte Owen wissen, was er brauchte? Sein treuer Kammerherr verstand nicht, wie sehr Lydia noch in diesem Raum gegenwärtig war in den Damastvorhängen am Fenster, im Baldachin über dem Bett, im Spiegel neben ihrem Toilettentisch und dem silbernen Kamm darauf. Es war nun alles, was ihm von ihr geblieben war, alles außer den Erinnerungen und den Kindern. Er lag Nacht für Nacht in jenem Bett, unter jenem Baldachin und lauschte den Stimmen der Geister, bis ihn schließlich ein ruheloser Schlaf überfiel.
Der Klang kindlicher Stimmen schwoll hinter Stephen an, während die Tür zur Bibliothek geöffnet wurde. Melisande, die am ersten Frühlingstag sechs Jahre alt geworden war, rannte auf ihn zu, als er sich umdrehte, und schlang ihm die Arme um das Bein. Als er sie hochhob, pflanzte sie ihm einen Kuss auf die Wange.
»Schnee, Vater, Schnee!«, rief sie freudig. Diese Worte brachten ein breites Grinsen auf Stephens Gesicht.
»Du hast dich offenbar in ihm gewälzt«, sagte er mit einem gespielten Aufstöhnen und wischte sich die kalten Klumpen aus gefrorenem weißem Pulver vom Wams, während er das Mädchen wieder absetzte; dann legte er den Arm um Gwydions Schulter. Melly nickte aufgeregt. Dann aber wich ihr Lächeln einem missbilligenden Blick.
»Wie hässlich das ist«, sagte sie und deutete über den Grundbesitz ihres Vaters zu der endlosen Mauer, die ihn nun umschloss.
»Und es wird noch hässlicher werden, wenn die Leute ihre Häuser innerhalb der Mauer wieder aufbauen«, sagte Stephen und zog Gwydion näher zu sich heran. »Genießt die Ruhe, so lange sie noch herrscht, Kinder. Beim nächsten Winterfest wird das hier eine Stadt sein.«
»Warum denn, Vater? Warum sollten die Leute ihre schönen Ländereien aufgeben und hinter eine hässliche Mauer ziehen?«
»Um der Sicherheit willen«, antwortete Gwydion ernsthaft. Er fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über das haarlose Kinn und nahm damit genau die Haltung seines Vaters ein, wenn dieser über etwas nachdachte. »Dann befinden sie sich im Schutz der Festung.«
»So schlimm wird es nicht werden, Melly«, meinte Stephen. Er fuhr dem Mädchen durch die goldenen Locken und lächelte angesichts des Funkeins, das in ihre schwarzen Augen zurückgekehrt war. »Es wird mehr Kinder hier geben, mit denen du spielen kannst.«
»Hurra!«, rief sie aus und tanzte freudig erregt durch den dünnen Schnee auf dem Balkon. Stephen nickte dem Kindermädchen zu, als dieses an der Balkontür erschien. »Warte noch ein paar Tage, mein Sonnenstrahl. Der Winterkarneval wird stattfinden, und es wird so viele farbige Banner und Flaggen geben, dass man glauben könnte, es schneit Regenbögen. Komm jetzt. Rosella wartet auf euch.« Noch einmal drückte er Gwydions Schulter und küsste seine Tochter, als sie an ihm vorbeilief. Dann wandte er sich wieder ab und dachte über die veränderten Zeiten nach.
4
Im Gegensatz zu den Hauptstädten von Bethania, Bethe Corbair, Navarne und den anderen rolandischen Provinzen war Yarim nicht von den Cymrern erbaut worden; die Stadt war weitaus älter.
Yarim Paar das zweite Wort bedeutete in der Sprache der Einheimischen Lager war in der Mitte des ausgedehnten Dürregebietes errichtet worden, welches den größten Teil der Provinz ausmachte, und lag zwischen den trockenen Winden der Zahnfelsen im Osten und dem Eise Hintervolds im Norden. Weiter im Westen, näher an Canderre und Bethania, wurde das Land fruchtbarer, doch der Hauptteil des Reiches bestand aus trockenem Land voller Gestrüpp und rotem Lehm, der in der kalten Sonne buk.
Yarims Nachbargebiete, die versteckten Länder östlich der Zahnfelsen, waren fruchtbar und bewaldet; es schien, als reichten die Berge bis in den Himmel hinein und zögen den kostbaren Regen aus den dünnen Wolken, die ihre Gipfel umschwebten. Der Seewind strich aus Westen über den Kontinent, brachte Feuchtigkeit mit und schenkte auf diese Weise den Küstenregionen von Gwynwald und Tyrian sowie den angrenzenden binnenländischen Provinzen Gewänder aus tiefgrünem Forst und Feld. Wenn aber der Wind auf dem Weg nach Osten endlich Yarim erreicht hatte, konnte er keine Wohltaten mehr bringen; die Wolken hatten den größten Teil des Regens bereits ihren bevorzugten Kindern gespendet. In besonders trockenen Jahren gab es in Yarim mehr Staub als Getreide.
Früher einmal war ein Nebenfluss des Tar’afel aus den Eiswüsten Hintervolds gekommen und hatte sich mit dem Erim Rus vereinigt, dem Blutfluss, wie ihn die frühen Siedler genannt hatten einem schlammigen roten Wasserlauf, der mit mineralischen Ablagerungen verdreckt war, welche die Berghänge verkrusteten. Am Zusammenfluss dieser beiden Läufe, die nur selten Wasser führten, stand die Wiege der Stadt Yarim Paar.
Obwohl dieses Gebiet den frühen Bewohnern des Kontinents als Wüste erschienen war, konnte doch nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein. Ein König, dessen Name in Vergessenheit geraten war, hatte die Länder von Yarim blasiert als den Nachttopf der Eiswelt und der östlichen Berge bezeichnet. In diesen Worten lag eine unbeabsichtigte Wahrheit. Die Lage an der Kontinentalscheide verhalf Yarim zu reichen Mineralvorkommen und, was noch wichtiger war, zu großen Salzablagerungen. Unter der bescheidenen Oberfläche verliefen dicke Adern von Mangan und Eisenerz in Richtung der östlichen Berge, und weiter westlich befand sich ein ausgedehnter unterirdischer Salzsee. Als ob diese Reichtümer nicht ausreichten, um die unwirtliche Gegend zu segnen, waren die zugigen Steppen gespickt mit gewaltigen Opalvorkommen, deren Steine wie gefrorene Regenbögen in unzähligen Farben schimmerten. Eine der Abbaustätten des Opals trug den Namen Zbekaglou, was in der Eingeborenensprache so viel wie »das Ende des Regenbogens« oder »Ort, wo die Himmelsfarben die Erde berühren« bedeutete.