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Die Aufgabe, sich um den Brunnenquell zu kümmern, war einem Klan übertragen, der als die Shanouin bekannt war. Dabei handelte es sich um eine Gruppe früherer Nomaden, die angeblich aus Kurimah Milani stammten. Die Wasserpriesterinnen der Shanouin besaßen das höchste gesellschaftliche Ansehen in Yarim und wurden nur vom Herzog und dem Segner übertroffen, die Yarim mit der benachbarten Provinz Canderre teilte. Weil die Entudenin einem Monatszyklus folgte, wurde sie als weiblich angesehen; deshalb war es nur den Frauen der Shanouin erlaubt, den Obelisken während der Ruhephase zu säubern und zu pflegen sowie den Zugang der Leute zum Brunnenquell zu regeln. Die Männer und Kinder des Klans hingegen legten die Wasserbecken an und stellten die Versorgung der wichtigeren Haushalte sicher. Der Fuhrmann, der jeden Monat die Fässer zum Haus des Herzogs brachte, hatte eine Stellung inne, die jene des Kammerherrn an Wichtigkeit noch übertraf.

Als die Jahrhunderte vergingen und der Erim Rus mit Blutfieber verseucht wurde sowie der Nebenfluss Tar’afel austrocknete, blieb die Entudenin beständig und treu und versorgte das trockene Reich in jedem Mondzyklus zwanzig Tage lang mit dem Elixier des Lebens. Die grünen Wüstengärten verdorrten, weil nun einiges vom Wasser des Brunnenquells in die umliegenden Dörfer und Städte sowie in die Außenposten und Bergbaulager geleitet wurde. Das Paradies, zu dem Yarim Paar geworden war, wich einer gesetzteren, verständigeren Stadt, einer hübschen Matrone, die den Platz der einst wunderschönen Braut einnahm.

Und so ging es Monat für Monat, Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert, bis die Entudenin in Schlaf fiel und nicht mehr aufwachte.

Zuerst hatten die Shanouin Gelassenheit gezeigt. Die Brunnenquelle hatte ihre Zyklen nie auf den Tag genau begonnen, obwohl sich niemand daran erinnern konnte, dass sie jemals mehr als drei Tage von ihrem Schema abgewichen war. Als aber der vierte und auch der fünfte Tag vergangen waren, wurde der Segner von Canderre und Yarim durch einen geflügelten Boten von seiner Basilika in Bethania nach Yarim Paar in der Hoffnung gerufen, seine heilige Weisheit, die ihm durch den Patriarchen vom Schöpfer selbst verliehen worden war, könne den Grund für das Schweigen der Entudenin herausfinden und Genugtuung für eine mögliche Beleidigung leisten.

Der Segner kam in gebührender Eile; er ritt auf seinem Wüstenpferd in Begleitung von nur acht Wachen, anstatt den langsameren königlichen Wagen zu benutzen. Als er eintraf, war der Brunnenquell schon seit zehn Tagen trocken, und die allgemeine Besorgnis drohte nicht nur in Yarim Paar, sondern auch in den anderen Städten und Außenposten Yarims in Panik umzuschlagen, denn sie alle hingen vom Wasser der Entudenin ab. Rasch verbreitete sich der Aufruhr auch in den anderen rolandischen Provinzen, denn viele orlandische Herzöge besaßen Grundbesitz und Kapitalanlagen in Yarim.

Als es dem Segner nicht gelang, durch seine Gebete den Brunnenquell wieder zum Leben zu erwecken, wandten sich viele Bewohner von Yarim von den monotheistischen Praktiken der Religion von Sepulvarta ab. Sie hörten nicht mehr auf den Segner und den Patriarchen und kehrten zur heidnischen Vielgötterei zurück, die sie vor dem Eintreffen der Cymrer gepflegt hatten. Der Göttin der Erde, dem Herrn des Meeres, dem Gott des Wassers und jeder anderen möglichen Gottheit, welche den Fluch des Durstes von ihnen nehmen könnte, brachten sie öffentliche und private Opfer dar, die manchmal wohlwollend, manchmal auch böswillig waren. Doch all ihre Bitten stießen auf taube Ohren.

Schließlich kam man auf eine Idee. In der Stadt verbreitete sich das Gerücht, dass die Shanouin die Schuld trugen. Die Aufwarterinnen der Entudenin hatten diese angeblich beleidigt und sie dazu gebracht, sich von ihrem Volk zurückzuziehen. Die Wasserpriesterinnen und der Rest des Klans flohen bei Nacht aus Yarim Paar, während schon das Holz für ihre Scheiterhaufen gesammelt wurde. Doch auch die Flucht der Shanouin beeindruckte die Entudenin nicht; sie weigerte sich immer noch, ihr Herz zu öffnen. Als wegen der Herrschaft über die austrocknenden Zisternen mörderische Tumulte ausbrachen, verfiel die Stadt Yarim Paar unter der Regentschaft des Herzogs in grämliches Schweigen und dachte darüber nach, wie sie ohne Wasser überleben sollte. Bald wurde der halbherzige Versuch unternommen, Brunnen zu graben, doch man gab schnell wieder auf. Niemand hatte je so etwas versucht, und so wusste auch keiner, wie man richtig einen Brunnen anlegte, zumal sich die Entudenin immer wie eine großzügige Amme um das benötigte Wasser gekümmert hatte. Selbst wenn jemand gewusst hätte, wie man sich durch die trockene Erde bohrt, wäre die Aussicht auf eine Entdeckung einer Wasserader der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleichgekommen. Wenn tatsächlich irgendwo Wasser unter dem Sand lag, konnte es sich auch am anderen Ende der Welt befinden.

Schließlich dachte der Herzog daran, dass die Shanouin zwar vielleicht den Brunnenquell beleidigt hatten, aber alles über das Wasser in dieser Dürreregion wussten. Er schickte sein Heer aus, auf dass der ganze Stamm Zusammengetrieben und nach Yarim Paar zurückgebracht wurde. Gemeinsam mit den Shanouin wurde eine Ratsversammlung einberufen, an der die Verwaltung von Yarim Paar, die Aufseher über die verschiedenen Bergbaulager und Abgesandte anderer yarimesischer Städte teilnahmen.

Auf dieser Zusammenkunft versprach der Herzog von Yarim den Shanouin erneut die freien Bürgerrechte und den Schutz des yarimesischen Heeres, wenn es ihnen gelänge, Wasser aus dem trockenen Lehm hervorzubringen und das Leben der durstigen Städte zu erhalten. So erlangten die Shanouin allmählich ihr früheres soziales Ansehen zurück, indem sie erfolgreich Wassersammelstellen errichteten, welche die ganze Provinz Yarim versorgten, doch es war nie so viel wie in den besten Tagen. Obgleich sie nun ohne die Arterie leben mussten, die das Leben aus dem Herzen der Erde heraufgepumpt hatte, gab es immer noch etliche kleine Venen in Oberflächennähe, welche die früheren Priesterinnen der Entudenin aufzuspüren in der Lage waren. Diese Arbeit war schwierig und die Ergebnisse ungewiss, doch irgendwie überlebte Yarim die Apokalypse. Die einst so prächtige Hauptstadt Yarim Paar welkte an der Hitze dahin, trocknete unter der Sonne aus und wurde dabei spröde und rissig.

Die Entudenin erhob sich immer noch fest in den Himmel, aber nun schwieg sie. Das große Marmorbecken um sie herum trocknete ebenfalls aus und zerfiel. Der Obelisk buk in der Sonne und verlor seinen Glanz und seine Farben, bis er schließlich so trocken und rot wie der übrige Lehm war, aus dem man Yarim erbaut hatte. Von Zeit zu Zeit wurde er von Pilgern aus den Gegenden jenseits der Wüste besucht, die an seinem Fuß standen, hinauf zum Leichnam des toten Quellfelsens schauten und den Kopf schüttelten, weil sie traurig über den Verlust waren oder die Übertreibungen in den Geschichten erkannten, die sie über die Fontäne gehört hatten.

Wenn sich des Nachts die Dunkelheit herabsenkte und das Zwielicht den Himmel verließ, konnte jemand, der in diesem Augenblick den alten Felsen beobachtete, einen winzigen goldenen Schimmer sowie ein silbernes Funkeln zarten Glimmers bemerken, welche die Hitze für immer in den dunklen, aufschießenden Felsen eingeschmolzen hatte, der hoch zu den Sternen wies.

»Ich nehme an, Ashe hat dich bei eurem Besuch in Yarim auch hierher geführt?«

»Nein, warum?«

Achmed blickte an dem hohen, sich verjüngenden Schaft des Obelisken empor. »Ich könnte mir vorstellen, dass dieser gigantische Phallus seine Minderwertigkeitsgefühle nur verstärkt. Gerechtfertigte Gefühle, wie ich hinzufügen darf.«

Rhapsody lächelte unter den Schleiern ihrer Pilgerverkleidung, die ihr Gesicht verhüllte, aber sie sagte nichts. Stattdessen wartete sie, bis die drei ältlichen Frauen, die wie sie in fließende weiße Gewänder gekleidet waren und die Gesichter hinter Schleiern verborgen hatten, ihre Gebete beendet hatten und weitergingen. Dann trat sie näher an die uralte Felsformation heran.