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Die Entudenin war kleiner und dünner, als sie erwartet hatte, und wirkte irgendwie zerbrechlich. In der Tat waren sie zweimal an ihr vorübergegangen, ohne sie zu sehen, denn sie stand in der Mitte des Marktplatzes wie ein wenig geschätztes Standbild, an dem die Ochsenkarren und Viehkarawanen achtlos vorbeizogen. Die drei Frauen, die sich soeben wieder auf den Weg gemacht hatten, waren die Einzigen aus dem ganzen geschäftigen Treiben Yarim Paars gewesen, die an jenem Morgen stehen geblieben waren und den Obelisken angeschaut hatten.

Die mineralischen Ablagerungen, aus denen er geschaffen worden war, hatten sich nun zu hartem rotem Stein verfestigt, der mit tiefen Aushöhlungen und Löchern übersät war. Rhapsody bemerkte, dass er entfernt wie ein abgeschlagener Arm aussah, der auf dem Boden balancierte und dem die Hand fehlte.

Sie warf einen Blick auf den quirligen Marktplatz und schaute sofort wieder weg, als ein Trupp yarimesischer Soldaten mit ihren unverwechselbaren gehörnten Helmen vorbeiritt. Sobald das Hufgetrappel verklungen war, sah sie wieder zu Achmed hinüber. Er schaute südwärts.

»Was ist deiner Meinung nach mit dem Wasser geschehen? Warum ist die Entudenin ausgetrocknet?«

Achmed grinste. »Hältst du mich für Manwyn, nur weil wir uns zufällig in derselben Stadt befinden?«

»Wohl kaum. Sie ist viel angenehmer als du.« Rhapsody erschauerte, als sie sich an das scheußliche Lachen des Orakels erinnerte, an die grundlose Verspottung Ashes und ihre schlimmen Prophezeiungen.

Ich sehe die Geburt eines unnatürlichen Kindes, hervorgegangen aus einer unnatürlichen Verbindung. Nimm dich vor dieser Geburt in Acht, Rhapsody: Die Mutter wird sterben, das Kind aber wird überleben.

Ashe hatte sich über die Worte erbost. Als er eine Erklärung verlangte, hatte sie auch ihn mit rätselhaften Worten bedacht.

Gwydion ap Llauron, deine Mutter ist gestorben, als sie dich zur Welt brachte, aber die Mutter deiner Kinder wird bei ihrer Geburt nicht sterben.

Da war noch etwas gewesen, aber Rhapsody erinnerte sich nicht mehr daran; es schien so, als wäre es aus ihrem Gedächtnis entfernt worden.

Sie blinzelte und bemerkte, dass Achmeds ungleiche Augen sie anstarrten. Rhapsody schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu verscheuchen.

»Wenn ich eine Seherin fragen wollte, was mit der Entudenin geschehen ist, würde ich mich an Anwyn wenden«, sagte sie. »Sie ist diejenige, die in die Vergangenheit schaut. Aber ich glaube, das lasse ich lieber. Da frage ich besser dich, auch wenn du nur eine Vermutung abgeben kannst. Was ist das deiner Meinung nach für eine Beleidigung gewesen, um deretwegen der Quellfels ausgetrocknet ist?«

Sie sah, dass er unter seinem Schleier lächelte. »Die Beleidigung durch einen mineralischen Pfropfen oder die Verlagerung einer Gesteinsschicht innerhalb der Erde.«

»Wirklich? Das ist alles?«

»Wenigstens meiner Meinung nach. Hast du je bemerkt, dass alles Wunderbare und Gute als Geschenk des All-Gottes, alles Schlimme und Schreckliche aber als Versagen der Menschen angesehen wird? Vielleicht ist alles, was im Guten oder Schlechten geschieht, bloßer Zufall.«

»Vielleicht«, sagte sie rasch. Sie zog das Buch hervor und blätterte es hastig durch.

»Rhonwyn sagte, das Kind befinde sich in Yarim Paar, unter der Entudenin, nicht wahr?«

Achmed nickte, ohne den Blick von dem versteinerten Geysir abzuwenden. »Es war eine Tortur für mich, wie du Namen, Alter und Aufenthaltsort dieser Dämonenbrut aus der verrückten Seherin herausgelockt hast.«

Rhapsody kicherte. »Tut mir Leid. Es ist nicht leicht, Informationen von einer wahnsinnigen Seherin zu bekommen, die sich schon einen Augenblick später nicht mehr erinnern kann, wer du eigentlich bist, weil sie nur die Gegenwart sieht. Einen Herzschlag später ist die Gegenwart schon zur Vergangenheit geworden, und sie erinnert sich nicht mehr an das, was sie gesagt hat, und erst recht nicht daran, was du gesagt hast. Und wenn du glaubst, Rhonwyn sei schlimm, dann freu dich, dass du Manwyn nicht begegnet bist.« Sie beugte sich vor und versuchte, über den Kuppeln der Gebäude den zerfallenden Tempel des Orakels zu erkennen, doch nirgendwo sah sie das Minarett. »Der Fontänenplatz ist der Mittelpunkt der Stadt. Glaubst du, ›unter‹ bedeutet so viel wie ›südlich‹?«

Der Fir-Bolg-König zuckte die Achseln und versuchte sich zu konzentrieren. Die Herzschläge klangen nun gedämpft und wurden von dem Brummen der vielen Menschen verschluckt sowie vom Weinen des Winterwindes in den engen Gassen, dem Schachern der Frauen und dem Lärm der Kaufleute, die ihre Waren auf dem Marktplatz feilboten. Dazu kam die Dämpfung durch die Schleier, die beinahe jeder in Yarim trug, um den treibenden Sand von Augen und Nase fern zu halten.

Noch immer schmerzte ihm die Brust vom Schock der Arrhythmie, von dem Schlag der Dissonanz, die sein eigener Herzschlag erfahren hatte, als der zweite Puls von ihm abgeprallt war. Er begriff nun, was Rhapsody mit Namensliedern und Liedern des Selbst meinte und was es bedeutete, dass sie ihre Musik in Gleichklang mit dem wahren Namen eines Menschen oder Gegenstandes bringen konnte. Ihre musikalischen Fähigkeiten wirkten auf dieselbe Weise wie seine Gabe der Spurenlese. Sie beide schlössen sich an die einzigartigen Schwingungen an, die jedes Lebewesen aussandte. Er hatte schon immer gewusst, wie verwundbar er war, wenn er seinen eigenen Herzschlag dem eines anderen anpasste. Nun fragte er sich, ob es sich bei ihr genauso verhielt.

In der Ferne hörte er immer noch beide Rhythmen. Es war so unendlich wenig Blut aus der alten Welt in den Kindern, dass er eigentlich nicht in der Lage sein sollte, es zu hören. Einer der Herzschläge war schwächer und ruckartiger als der andere.

»Einer von ihnen der Erste ist am südöstlichen Rand der Stadt«, sagte er schließlich. »Und was den anderen angeht, so könnte er überall sein.«

Rhapsody richtete nervös den Schleier vor ihrem Gesicht. »Das schafft nicht gerade große Sicherheit.«

»Tut mir Leid.«

»Sei nicht wütend. Es ist nur so, dass deine Fähigkeit, diese Kinder aufzuspüren, die einzige Hoffnung ist, die wir haben.«

Achmed fasste sie am Ellbogen und zog sie von der ausgetrockneten Fontäne weg. Er führte sie zu einer geschützten Nische in einer Seitenstraße, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie allein waren, beugte er sich zu ihrem Ohr vor.

»Ich hätte es dir schon vor langer Zeit erklären sollen«, sagte er mit so leiser Stimme, dass sie kaum mehr als ein Flüstern war. »Du begreifst nicht die Schwierigkeit dessen, um was du mich bittest.

Auf der Insel konnte ich leicht den Herzschlag eines jeden Menschen ausfindig machen und ihm folgen. Wie bei dem Weg durch einen vertrauten Wald gab es immer Ungewissheiten und Gefahren, aber ich wusste, wo sie waren und wie ich mit ihnen umzugehen hatte. Diese Fähigkeit ist verschwunden; ich kann sie nur noch bei denjenigen ausüben, die ebenfalls auf Serendair geboren wurden. Ich kann meinen Herzschlag mit Grunthors, deinem und dem von einer Hand voll Cymrer der Ersten Generation in Einklang bringen. Das ist alles.«

Seine Stimme wurde noch leiser. »Einen F’dor zu jagen war schon immer schwieriger; wie du weißt, habe ich noch nie einen in den Bann schlagen können. Dass es mir diesmal gelingen könnte ich wiederhole: könnte , liegt an dem Zusammenspiel meiner Blutgabe und der Fähigkeit der Dhrakier. Dazu ist es aber nötig, dass wir das Blut des Dämons von dem der Kinder zu trennen vermögen. Immer wenn ein F’dor-Geist aus seiner zerschmetterten Gruft innerhalb der Erde hervorkam, nahm er sich einen Wirt. Es musste ein ziemlich machtloser sein, ein Kind zum Beispiel oder ein schwacher Mann. Der Geist benötigte einen Wirt, der schwächer war als er selbst oder höchstenfalls genauso stark, denn wenn er frisch aus der Erde kommt, ist er erst einmal schwach. Dann wird Blut vergossen vielleicht nur ein einziger Tropfen, doch jedes Mal werden dabei Blutsbande geschmiedet. Der Geist benötigt das Blut, um sich mit einem lebenden Wesen zu verbinden. Dieses Blut wird zum eigenen des Dämons. Auch wenn er wächst, bleibt es sein eigenes Blut, obwohl es sich vermischt und vom Blut jedes neuen Wirtes befleckt und verdünnt wird.