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Ihre Antwort war jetzt wie damals nur ein Flüstern.

Es war wie ein Tod bei lebendigem Leibe.

Ihre Arme zitterten. Da sie auf Händen und Knien balancierte, erbebten die Ellbogen unter dem Druck und krümmten sich für einen Augenblick. Sie zuckte nach vorn, fiel mit dem Gesicht voran in das stinkende Wasser und schlug mit dem Kinn auf den nassen Tunnelboden. Rasch richtete sie sich wieder auf. Sie wollte nach Achmed rufen, wie sie es getan hatte, als das Schwert den Tunnel erhellt hatte, nur damit sie seine Stimme hörte, doch sie erkannte gleich darauf, dass sie nicht in Panik geraten und nach Hilfe rufen durfte. Die Sklavenkinder, die irgendwo vor ihr in dem dunklen Tunnel hockten, waren nun still und hatten vermutlich vor Rhapsody genauso viel Angst wie sie vor der Katakombe, den Schlangen und den Ratten. Doch wenn sie auch nur ein Anzeichen von Schwäche zeigte, könnten sie die Gelegenheit ergreifen und sie im Verbund angreifen, denn auf diesem heimatlichen Grund, in diesem dunklen Land, das ihre Wohnstatt war, hatten sie einen klaren Vorteil. Rhapsody zweifelte nicht daran, dass sie hart, grausam und von dem schrecklichen Leben, das sie führen mussten, gestählt waren.

Sie könnten Rhapsody in Stücke reißen.

Ihr Herz raste. Sie dachte verzweifelt an Grunthor und seine Verbindung zu Erde und empfand den widersinnigen Wunsch, er wäre hier. Kind der Erde, hatte Manwyns Prophezeiung ihn genannt.

Die Drei werden kommen; früh brechen sie auf, spät treten sie in Erscheinung, Die Lebensalter des Menschen: Kind des Blutes, Kind der Erde, Kind des Himmels.

Wenn ihre Vermutung sich als richtig herausstellen sollte und sie, Achmed und Grunthor die drei Personen aus der Weissagung waren, dann war sie das Kind des Himmels ein Ausdruck, mit dem sich die Lirin selbst zu beschreiben pflegten. Es ist falsch; es ist falsch, dass ich hier bin, dachte sie benommen und kämpfte gegen die wachsende Übelkeit an. Sie sollte an der frischen Luft sein, unter den Sternen und ihre Morgen und Abendlieder in den Himmel singen.

Tod lag in der Luft; sie spürte, wie er sie schmutzig und dick umgab. War ein Kind an diesem Ort gestorben, oder vielleicht viele, die der mörderischen Arbeit, den schrecklichen Bedingungen oder dem Luftmangel unterlegen waren? Sie spürte, dass die Kinder nun näher waren. Hatten sie genug Mut gesammelt, um Rhapsody anzugreifen?

Feigling, dachte sie, als ihr Zittern stärker wurde. Du bist die Iliachenva’ar, die das Licht in die Dunkelheit trägt. Und du willst dich wie ein Kind im Mutterleib zusammenrollen. Mama, meine Täume jagen mich. Komm in mein Bett und bring Licht mit.

Die Worte der Liringlas-Aubade, des morgendlichen Liebesliedes an den Himmel, drängten sich wie von selbst auf ihre Lippen. Zitternd stimmte sie das Lied an und sang leise die Worte, die ihre Mutter ihr beigebracht hatte Worte, die sie so oft zusammen mit ihrer Lehrerin Oelendra gesungen hatte; Worte, die an einem Platz in ihrer Seele geboren worden waren, der so alt war wie die Zeit selbst.

An diesem tiefen Platz spürte sie ein Flackern von Wärme und ein Pulsieren von Licht, als ob sie mit ihren Sinnen das Band berührt hätte, das sie an das Schwert geschmiedet hatte. Der Gedanke verlieh ihr Mut, und sie sang mit etwas festerer Stimme und so laut, dass sie hörte, wie die Töne von den schwarzen Tunnelwänden vor ihr widerhallten.

Einen Moment später vernahm sie ein anderes Echo, leiser als das erste und von einer anderen Stimme einer Stimme, die ihr vertraut war, die sie aber nicht erkannte. Einer hohen und verängstigten Stimme.

Einer Kinder stimme.

Mimen?

Dieses Wort klang ihr in den Ohren; es war zögerlich auf Alt-Lirin gesprochen worden, der Sprache der Liringlas, dem Volk ihrer Mutter. Seine Bedeutung war unmissverständlich.

Mama?

Rhapsody hob den Kopf. Im Tunnel vor ihr erkannte sie schemenhaft einen Kopf, Schultern dürr schienen sie zu sein und hager. Oder vielleicht war es nur ihre Einbildung; die Dunkelheit war so vollkommen, dass ihre Augen keinen Haltepunkt fanden. Sie spürte, wie sie die Luft heftig ausstieß. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie den Atem angehalten hatte.

»Nein«, sagte sie leise. »Hamimen.« Großmutter.

»Hamimen?«

»Ja«, antwortete sie noch immer in der alten Sprache der Liringlas, nun aber lauter und etwas deutlicher. »Wie lautet dein Name, mein Kind?«

»Arie.« Der Umriss des Kopfes schwankte in der Dunkelheit.

»Soll ich Licht bringen, Arie? Diesmal schwächer?«

Ein schlurfendes Geräusch der Kopf zog sich zurück.

»Nein! Nein!«

Hinter ihm, vorn im Tunnel eine raschelnde Bewegung.

»Arie, warte. Ich bin gekommen, um dich aus der Dunkelheit zu führen euch alle.«

Schweigen.

Verzweiflung verkrallte sich in ihrer Kehle. »Arie?«

Es gab keine Antwort.

Rhapsody glitt mit der Hand über den Schwertgriff. Sie umfasste ihn und zog die Klinge ein Stück weit aus der Scheide. Rhapsody atmete langsam aus und versuchte sich zu beruhigen. Als sie ihre Gelassenheit wieder fand, brannte das Schwert gleichmäßig; ein leises Flackern strömte aus der Scheide.

Die Nachtmahre des Tunnels wichen zurück und tauchten den geziegelten Aquädukt in ein schwächeres Licht als zuvor. Am Rande des Glimmens zweigten vor ihr zwei kleinere Tunnel ab zweifellos das Gebiet, in dem nach Achmeds Angaben die Kinder schliefen. Sie bewegte sich langsam vorwärts, hielt das Schwert neben sich und spähte in die abzweigenden Tunnel. Sie endeten in Nischen, in denen dreckige Stofffetzen, die vielleicht einmal als Laken Verwendung gefunden hatten, in dem schmutzigen Wasser schwammen. Rhapsody bemühte sich, nicht vor dem überwältigenden Gossengestank zurückzuweichen. Ein blondes, langknochiges Kind mit durchscheinender Haut hatte sich gegen die hintere Wand der Nische gedrückt und zitterte vor Angst. Rhapsodys Kehle wurde trocken, als die Erinnerung kam. Es war dasselbe ätherische Aussehen, dieselbe zarte Gesichtsbildung, die auch ihre eigene Mutter ausgezeichnet hatten. Doch da war noch etwas, etwas beinahe Wildes, die Andeutung eines nichtmenschlichen Vaters.

»Arie«, sagte sie sanft, »komm zu mir.«

Das Kind schüttelte den Kopf und drehte das Gesicht zur Wand.

Rhapsody kroch noch ein paar Schritte vor und blickte dann hinunter auf ihre Arme. Das Wasser stand ihr nun bis zu den Ellbogen.

Von Angst befeuerte Ungeduld überkam sie. »Komm endlich, Arie!« Das Kind zitterte nun noch heftiger.

Plötzlich überkam sie ein Gedanke. Sie kroch auf Händen und Knien rückwärts aus der Nische. Sobald sie in einer gewissen Entfernung zu dem Kind war, sang sie ein Kinderlied aus Serendair. Es war eine Melodie, die sie scherzhaft auch Grunthor einmal vorgesungen hatte.

Wach auf, kleiner Mann, Lass die Sonne in die Augen Der Tag lockt dich zum Spiel heraus.

Sie wich noch weiter zurück und webte ihren Zauber in die Töne und Wörter des alten Liedes.

Komm hierhin, komm dorthin, komm, folge mir! Komm hierhin, komm dorthin, komm, folge mir!

Rhapsody sah am Rande des hellen Flammenglanzes, den das Schwert ausströmte, neue Gesichter erscheinen und hörte Bewegungen. Sie nickte knapp und zog sich weiter zurück, wobei sie sang:

Lauf, kleiner Mann, Zu des Himmels Ende, Wo die Nacht den Kamm des Tages berührt. Komm hierhin, komm dorthin, komm, folge mir! Komm hierhin, komm dorthin, komm, folge mir!

Weiter hinten im Tunnel erschienen noch mehr Gesichter. Sie glänzten im schwachen Licht, waren ausgezehrt und wie die Geister, die manchmal durch ihre Träume pirschten. Noch immer kroch sie zurück und sang ihr verzauberndes Lied.

Spiele, kleiner Mann, Bis du weise wirst, Und jage deinen Träumen nach. Komm hierhin, komm dorthin, komm, folge mir! Komm hierhin, komm dorthin, komm, folge mir!