Sie zog die Tagessternfanfare, deren Flamme hell wie eine Fackel in der schwarzen Nacht brannte und vor gerechter Wut zischte und tönte wie ein Glockenspiel, das alle anderen Laute erstickte.
»Anwyn!«, rief sie. Ihre Stimme erschütterte die Erde. Felsplatten lösten sich und donnerten an den Bergen herab ins Tal. »Anwyn, du Feigling! Hier bin ich!«
In der Ferne wandte sich die Drachin um. Einen Moment lang schwebte sie über einem Dunst aus blutigem Feuer, dann schoss sie auf den Gerichtshof zu.
Rhapsody hielt das Schwert hoch. Grunthor und Achmed packten ebenfalls den Griff und halfen ihr, es noch höher zu halten. Sie suchte den Himmel nach einem Stern ab. Bald fand sie Carendrill, den winzigen, blauweißen Stern, unter dem die Lirin Friedensabkommen unterzeichneten.
»Seid ihr bereit?«, fragte sie und bemühte sich, das Schwert still zu halten. »Dies ist der Augenblick, der seit dem Ende des Ersten Zeitalters erwartet wurde. Unsere Worte werden mächtig sein. Wir müssen sie abwägen.« Die beiden Bolg schauten himmelwärts auf die nahende Drachin und nickten.
Hinter den zischenden Flammen des Schwertes hörte Achmed, wie Stille einsetzte. Sein Herz klopfte so laut, dass es ihm in den Ohren widerhallte. Sein Blut wurde heiß, summte vor Leben, vor dunkler Vorahnung jenes Blut, das im alten Leben mit dem der Blutsverwandten, der Flüchtlinge aus Serendair, verbunden worden war. Alle Blutsverwandten, die es in der neuen Welt gab, befanden sich dort unten auf dem Schlachtfeld und suchten Schutz vor dem Zorn der Drachin. Er spürte ihren Schrecken in seinen Adern; ihr Blut war mit seinem durch die gemeinsame Vergangenheit und in der Hoffnung auf die Zukunft verbunden. Von seinen Lippen drangen Worte, die einem Gebet näher denn je kamen.
»Kein einziger Tropfen Blut soll hier mehr vergossen werden«, sagte er nur.
Kind des Blutes.
Die bernsteinfarbenen Augen des Riesen, der still neben ihm stand, waren voller Tränen. Diesen Augen war das Leid des Krieges und der Zerstörung nicht fremd. Sie hatten kalt der Vernichtung ganzer Nationen und den Rasereien der schrecklichsten Verderbtheit zugeschaut, ohne zu blinzeln, doch dieser Moment war irgendwie anders. In der Tiefe seiner Seele und durch das Band, das sich bei seiner Reise entlang der Axis Mundi vor so langer Zeit gebildet hatte, spürte Grunthor die Schmerzen der Erde und ihr Grauen darüber, dass so viele Gefallene dem Frieden, den sie in ihren Armen gefunden hatten, entrissen worden waren. Eine seelenlose Frau hatte die Unwilligen zu dem Wahnsinn angestachelt, der nun die Brachfelder zerriss. Tränen strömten seine Wangen hinab nicht für jene, die sich vor dem Tod in Deckung brachten, sondern für jene, die er schon vor Jahrhunderten umarmt hatte und die nun ohne eigene Schuld nach so langer Ruhe in der friedvollen Finsternis ihrer aller Mutter der Macht der Sonne und des Kampfes ausgesetzt wurden.
»Erde, öffne dich und nimm deine Kinder zurück«, sagte er.
Kind der Erde.
Als Einzige unter den drei kämpfte Rhapsody gegen ihre Wut an. Ihr Körper, der vorhin noch von dem Sturz und den 941
Verletzungen geschmerzt hatte, war durch die Kraft des Schwertes, des Feuers und der Sterne, mit denen es verbunden war, wieder heil geworden.
Es ist genug, dachte sie verbittert und versuchte ihren Hass zu bändigen, als die Bestie näher kam. Du besudelst den Himmel. Er ist dazu bestimmt, die Welt zu beschirmen, nicht aber Vernichtung auf sie herabregnen zu lassen. Der Himmel ist die Gesamtseele des Alls, und wie du gesagt hast, besitzt du keine Seele. Sie sog die Luft ein und stieß sie langsam wieder aus, während sie die Drachin herbeifliegen sah.
»Das Feuer des Himmels darf nicht deinem hasserfüllten Willen dienen, Anwyn. Alles Feuer, das aus dem Himmel herabregnet, soll nur das Ende des Kampfes bringen und den Beginn einer neuen Friedenszeit besiegeln.«
Kind des Himmels.
In der Senke unter ihnen weitete sich grollend der tiefe Riss im Boden. Die Körper der Gefallenen rollten in das offene Grab wie Kiesel über einen Berghang.
Das Licht des feurigen Drachenatems ergoss sich über die vier auf dem Rufersims. Wut, uralt, mächtiger als die Zeit, durchkreischte die Luft. Die Bestie, die aus dem Auge und der abgerissenen Klaue blutete, strich durch die Luft, glitt über den Gerichtshof. Sie sog die Luft ein und stieß sie wie ein Wirbelsturm wieder aus. Mit ihrem Feuer zielte sie auf den Rufersims.
In diesem Moment sprach Rhapsody den Namen des Sterns aus.
Der herabblitzende Strahl erschütterte den Sims und den ganzen Gerichtshof. Mit einem unirdischen Brüllen regnete das Feuer des Sterns, das reine, ungezügelte Element des Äthers, das der Geburt aller anderen Elemente vorangegangen war, aus dem Himmel herab und traf die Drachin, die gerade zuschlagen wollte, mitten in der Luft.
Die Bestie beschrieb einen Bogen, wurde von einem Licht erhellt, das heller als die Sonne war, und stürzte dann in Spiralen in den offenen Boden der Senke in das Grab, das sich unter dem Ansturm der Toten wie eine Eiterblase geöffnet hatte und zuvor von Grunthor geweitet worden war.
Als Anwyn in die Erde sank, schloss Grunthor die Augen, zuckte die Achseln und presste die Hände zusammen, als ob er ätherischen Lehm formte. Der Boden des Gerichtshofes zuckte und schloss sich rasch über der Stelle, wo Anwyn versunken war. Die zerfallenden Seiten des Gerichtshofes gaben nach, stürzten zusammen und bildeten einen großen Hügel aus Erde und Fels in der Mitte der Senke.
Erneut sprach Rhapsody den Namen des Sterns aus. Diesmal fiel klares und reines Licht vom Himmel herab, strömte über den Gerichtshof und versiegelte den Boden, unter dem die Drachin lag.
Aus der Ferne hörte Rhapsody, wie der Kriegslärm verebbte und allmählich Stille einkehrte. Als das Sternenlicht verblasste, sah sie unter dem Dämmerhimmel, dass die Gefallenen zurück in die Erde, in die Vergangenheit geglitten waren und Verwirrung, aber keine Kämpfe mehr zurückließen.
Sie wandte sich an Gwydion und schlang die Arme um ihn. Er erwiderte ihre Umarmung. Dann umfingen sie ihre beiden Gefährten, die ihre Geschichte, ihr Leben und ihre Zukunft teilten.
»Es ist vorbei«, sagte sie nur. »Jetzt beginnt die Arbeit.«
In der Nacht durchsuchten Achmed und Grunthor das Schlachtfeld zusammen mit Rhapsody und Ashe. Sie stellten Truppen neu zusammen, zerstörten die Überreste von Untoten, die noch vor bösem Leben bebten, richteten Lazarette ein und versuchten die Leute zu beruhigen, die unter Schock standen.
Im Glanz der unzähligen Lagerfeuer, die nun inmitten der Verwüstung brannten, traf Achmed auf Tristan Steward. Der Herr von Roland war unverletzt, aber schweigsam, und starrte den fernen Gerichtshof an. Seine schluchzende Frau stützte sich auf seinen Arm.
Der Fir-Bolg-König bedachte den Herrscher mit einem Blick, der an Mitleid grenzte. Schließlich sah Tristan Steward ihn an.
»Braucht ihr ärztlichen Beistand?«, fragte Achmed. Der Herr von Roland schüttelte den Kopf. Der Firbolg nickte, wandte sich um und wollte gehen.
»Warte«, sagte Tristan Steward. Seine Stimme war ein bloßes Flüstern. Achmed regte sich nicht, als der Herrscher zitternd aufstand und sich den Schmutz von den Händen wischte. Er sah den Fir-Bolg-König schweigend an. Schließlich wurde Achmed ungeduldig.
»Ja?«
»Das ... das Heer ... mein Heer ...«
»Ja?«
Der Herr von Roland verfiel wieder in Schweigen.
»Es war ein ausgezeichneter Einfall von dir, es als Geste des guten Willens herzubringen«, sagte Achmed so freundlich wie möglich. »Da es jetzt wie mein Heer unter dem Befehl von Rhapsody steht, war es gut, dass sie hier war, damit sie die Amtseinsetzung beobachten konnte. Ist es das, was du sagen wolltest?«
Tristan Steward öffnete den Mund und schloss ihn sofort wieder.
Schließlich sagte er: »Ja.«
»Das hatte ich mir gedacht. Entschuldige mich bitte«, sagte Achmed. Er drehte sich um und ging mit Grunthor und seinen Gehilfen in die Nacht hinein.
Rhapsody lief mit Krinsel, der Hebamme, zwischen den Verletzten umher und versorgte die Wunden der Menschen und Bolg.