Die Cymrer waren dank der Heere von Roland und Ylorc weitgehend verschont geblieben, und der Einsatz Ashes und der Soldaten hatte dafür gesorgt, dass die Toten zurückgehalten wurden, während der Rest entkommen konnte.
Sie verband gerade den Arm eines dunklen Cymrers aus der Rasse der Kith, als Rial mit ernstem Gesicht neben ihr erschien.
»Herrin?«
Rhapsody schaute hoch zu ihrem Vizekönig und lächelte, doch als sie den Ausdruck in seinen Augen sah, erstarb ihre Freude.
»Was ist los?«
Rial streckte die Hand aus. »Bitte kommt mit, Herrin.«
Sie ergriff seine Hand und folgte ihm durch die Dunkelheit über das verwüstete Land bis zu einer Stelle, wo der Leichnam eines wunderschönen schwarzen Hengstes lag. Neben ihm hockte Faedryth, der König der Nain, und auch Oelendra kniete am Boden. Rhapsody starrte das tote Pferd an und erschauerte.
»Nein«, flüsterte sie. »0 Götter, nein. Anborn.«
Der König der Nain sah sie an. Blut sickerte aus einer Wunde an seiner Stirn. »Noch lebt er«, sagte Faedryth traurig. »Er hat sich den Rücken gebrochen.«
»Nein«, sagte sie abermals, trat über Faedryths Beine und bückte sich zwischen ihm und Oelendra. »Anborn? Götter, was habe ich dir angetan?«
Der cymrische General lehnte sich gegen die Brust seines Freundes, des Nain-Königs. Rials roter Umhang bedeckte ihn. Sein Gesicht war unter dem dunklen Bart geisterbleich, doch es gelang ihm, schwach den Arm auszustrecken. Sie ergriff seine Hand.
»Du hast... mich erlöst«, sagte er mit leiser, heiserer Stimme. »Durch dich hat sich ... Manwyns Prophezeiung erfüllt. Ich habe den ... leichtesten meiner Blutsverwandten gefunden. Ich habe den Himmel aufgefangen, als er herabgestürzt ist. Du hast mir geholfen, den ... Riss in... mir selbst und denjenigen zu heilen, den ich ... vor langer Zeit ... bei meinen cymrischen Gefährten verursacht habe. Verstehst du? Ich werde sowohl von Lirin als auch von Nain versorgt. Wer ... hätte das für möglich gehalten?«
Tränen traten aus ihren Augen, als sie sanft seine Hand ergriff und gegen ihre Wange drückte. Anborn streichelte unter Schmerzen ihr Haar.
»Ich gebe mein Leben ... oder meine Beine ... gern für dich hin, meine Herrin«, sagte er unter großen Anstrengungen. »Es ist mir eine Ehre ... dir den Eid geleistet zu haben.«
»Rhapsody! Rhapsody!«
Ashes Stimme drang durch das Knistern des Feuers und das Wimmern des Windes.
Verzweiflung und Angst schwangen in ihr mit.
»Geh ... zu ihm«, sagte Anborn.
»Wenn ich zurückkomme, kümmere ich mich um dich«, meinte sie und stand auf. »Ich werde all meine Fähigkeiten als Sängerin einsetzen, um dich zu heilen.«
Anborn lächelte und winkte sie fort.
»Geh«, sagte er.
Rhapsody schaute über die Felder voller Verwundeter und Sterbender. Große Risse zeigten sich in der Erde, wo sie einstmals fest gewesen war. Sie folgte Ashes Stimme im Wind zurück zu den Toren des Gerichtshofes, durch welche die Cymrer erst gestern in so großer Hoffnung geschritten waren.
Ashe beugte sich hinter den Toren über den zerschmetterten Körper seines besten Freundes Stephen Navarne. Rhapsody eilte an seine Seite.
»Hilf ihm, Aria. Bitte. Ich will ihn nicht noch einmal verlieren«, keuchte Ashe. Er streichelte Stephens Gesicht und versuchte, den Herzog wieder zu beleben, dessen blaugrüne Augen schon in die nächste Welt blickten.
Rhapsody kniete sich neben die Männer in die matschige Erde. Ihre Blicke wanderten von dem blassen Gesicht Stephen Navarnes zu dem Hügel, unter dem er lag. Gwydion Navarne, ihr ältester Enkel, stand dort mit tapferer Miene und hatte die Arme um seine Schwester Melisande gelegt, die herzzerreißend weinte. Rosella hielt beide im Arm und blickte entsetzt zu Boden.
Rhapsody legte dem Herzog eine Hand auf den Brustkorb und suchte nach seinem Herzschlag. »Herr?«
Es kam keine Antwort. Die Haut unter ihrer Hand war kalt. Ihre Finger tasteten nach seiner Kehle. »Herr?«
Der Puls war so schwach, wie sie es noch nie bei einem Lebenden gefühlt hatte. In seinen Augen sah sie eine ferne Widerspiegelung des Nebels aus dem Schleier des Hoen.
»Aria, bitte...«
»Papa?«
Der Klang von Melisandes Stimme erweckte in Rhapsody eine Erinnerung. Zum letzten Mal hatte sie mit Herzog Stephen vor Haguefort gesprochen, in den Armen eines bitterkalten Windes, als sie ihm Llaurons angeblichen Tod verkündet hatte. Er hatte wie immer liebevoll gelächelt.
Du weißt, Rhapsody, dass du eigentlich zur Familie gehörst. Glaubst du, es wird eine Zeit geben, in der du mich einfach mit meinem Vornamen anreden wirst?
Nein, mein Herzog.
Rhapsody setzte sich aufrecht hin und dachte nach. Sie hatte einmal Grunthor vom Abgrund des Todes weggesungen, wenngleich Stephen anscheinend noch schlimmer verletzt war.
»Stephen«, sang sie und ließ die Hand über seinem Herzen ruhen. »Stephen, bleibe bei uns.«
Sie wandte sich an Ashe, dessen Augen glänzten. »Wie lautet sein Name, Sam? Sein voller Name.«
»Stephen ap Wayan ap Hague, tuatha Judyth.«
Sie wiederholte den Namen und sang ihn im Gleichklang mit dem schwachen Herzschlag des Herzogs. Zieh deine Hand von ihm zurück, Fürst Rowan, dachte sie, während sie mit all ihrer Kraft der Namensgebung sang. Lass ihn hier, an diesem Ort, nur noch eine kleine Weile.
Sie sang seinen Namen immer wieder, bis die Sonne aufging und ihre Stimme rau und heiser wurde. Als die Schwertspitze der Morgendämmerung den Horizont durchstieß, richtete Rhapsody den Blick auf diese blendende Stelle und versuchte, die Wärme der Sonne in Stephens Körper zu lenken, damit er nicht weiter auskühlte und sein Leuchten in der Welt blieb, die sie kannte und liebte. In dieser Sekunde der Blindheit erkannte Rhapsody den Umriss des Fürsten Rowan. Vielleicht wartete er ihr zuliebe und hielt seine Hand fern, wie zerschmettert und verletzt Stephen auch sein mochte, und verwandelte die Todesurteile der Cymrer, die sich bereits anschickten, aus dem Leben zu treten. Sie konnte sie alle heilen, ihnen neue Namen geben und sie auf diese Weise retten. Sie wandte sich erleichtert ab, als sie sah, wie die tausenden aus dem Grabe Erweckten, die zwischen den Verwundeten lagen, wie Feuerholz eingesammelt wurden.
Ihnen konnte sie ebenfalls Gutes tun; sie konnte ihnen Frieden schenken und sie auf eine höhere Ebene geleiten. Sie stellte sich vor, wie sie lächelten. Und sie stellte sich Stephen an der Tür zu seinem Museum vor.
Und weinte über die Versuchung und den unschätzbaren Verlust.
»Nein«, sagte sie unter Tränen. »Ich kann es nicht tun, Sam. Ich kann es nicht. Er muss sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und seinen eigenen Weg durch das Tor gehen oder sich entschließen, auf dieser Seite zu bleiben. Ich kann ihn zu dem Pfad hinsingen, aber er selbst muss ihn wählen. Wenn sich der Tod entschieden hat, ihn zu nehmen, habe ich kein größeres Recht als Anwyn, mich dagegen zu stemmen.« »Aria...«
»Nein«, sagte sie mit festerer Stimme. »Ich kann ihn nicht durch das Tor zurückholen. Seine Liebsten befinden sich auf beiden Seiten. Wenn er sich entscheidet, in die Ruhe hinüberzuwechseln, kann ich ihn nicht zwingen, hier zu bleiben. Es gibt gute Gründe für ihn, zu gehen oder zu bleiben. Wir müssen demütig annehmen, was er und der Tod zwischen sich ausmachen.«
Sie ergriff Ashes Hand, und er neigte traurig den Kopf. Sie standen Wache und hofften, Stephen würde wieder atmen und die Farbe des Sonnenaufgangs in seine Wangen einsaugen. Doch mit jeder Minute wurde seine Haut mehr zu Alabaster und die Hände kälter.
Als die Sonne über die Wolken stieg, wich das Licht aus den Augen des Herzogs. Rhapsody schaute in den Horizont und glaubte, ein Lächeln im Schatten hinter dem Schleier des Hoen aufblitzen zu sehen.
»Empfange ihn freundlich, Fürst Rowan«, flüsterte sie in den Morgenwind. Neben ihr weinte Ashe.
Rhapsody blickte über seine Schulter in die weißen Gesichter von Rosella und den Kindern. Sie streckte ihnen die Hände entgegen.