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»Rasch! Kommt rasch her!«

Gwydion Navarnes Hand war eisig, als Rhapsody sie ergriff und ihn sowie Melisande vor sich stellte. Sie umarmte die Kleinen und deutete hoch zur aufgehenden Sonne.

Im Schatten des goldenen Lichts, das über den Horizont strömte, sahen sie den Umriss des Freundes, des Vaters, des Herzogs, wie er wieder aufrecht stand unverletzt und stark. Sein langer und schwarzer Schatten erstreckte sich von der Sonne fort bis zu ihnen. Das strahlende Morgenlicht machte sein Haar leuchtend golden.

Hinter ihm war ein anderer Schatten: kleiner, dunkler, ebenfalls vom Tagesanbruch erhellt.

»Wer ist das?«, fragte Melisande und beschirmte die Augen.

Rhapsody zog sie näher zu sich heran und lächelte unter Tränen. »Deine Mutter.«

Sanft begann sie mit dem lirinischen Lied des Übergangs und wob seinen Namen Stephen in die alte Totenklage. Das erstarkende Licht des Morgens schien für einen Moment zu erstarren. Ashe begriff, was sie tat. Er streckte den Arm aus und streichelte Melisandes Gesicht, dann legte er die Hand auf Gwydion Navarnes Schulter.

»Sagt ihm Lebewohl«, meinte er zu den Kindern. Seine Stimme hatte ihre Kraft wiedergefunden; Weisheit lag in ihr. Gwydion Navarne hob den Kopf und schaute zum Horizont.

»Auf Wiedersehen, Vater«, sagte der Junge leise. Melisande winkte; sie konnte nicht sprechen. Hinter ihnen verging Rosella vor Trauer.

Gwydion erinnerte sich an die Worte seines Vaters, als Talthea, die Anmutige, dahingeschieden war.

Die Zeit hält uns alle im Griff, Gwydion. Wie alle Menschen, die den Launen der Zeit unterliegen, kämpft er darum, den Tod so lange wie möglich abzuwehren, weil er nicht weiß, welch ein Segen das Sterben zuweilen ist. Für dich und mich läuft die Zeit weiter.

Gwydion hob die Hand zur aufgehenden Sonne.

Benommen sang Rhapsody weiter. Licht ergoss sich nun in ihre Augen. Ihr schwirrte der Kopf, ihr Herz war erstarrt; es war ein Damm gegen die unweigerlich kommenden Schmerzen. Sie fragte sich, ob die Weisheit, die ihr der Gerichtshof verliehen hatte, ihr genug Kraft zu spenden vermochte, um der Kinder und des cymrischen Volkes willen ruhig zu bleiben. Und um Ashes willen.

Um ihrer selbst willen.

Hinter dem verblassenden Schatten sah sie in der Sonne andere, Dutzende, die im fernen Leuchten einer friedlichen grünen Lichtung hinter dem Schleier des Hoen standen. Sie beendete die Totenklage.

»Auf Wiedersehen, Stephen«, sagte sie. »Ich passe für dich auf sie auf.«

Die Sonne erstrahlte am Horizont und färbte den Himmel leuchtend blau. Wind kam auf, der Wind des Morgens, der den Rauch der schwelenden Glut zerstreute.

Rhapsody schaute sich um, als die Dämmerung den Rauch und die Verwüstung der Felder um die Ruine des Großen Gerichtshofes erhellte. Die Soldaten von Roland und Ylorc bewegten sich zwischen den Cymrern wie Lebende unter Schlafwandlern. Der cymrische Herr stand auf und bot ihr die Hand.

»Komm«, sagte er. »Wir sollten es beenden.«

Von den Überresten des Rufersimses sahen der neue Herr und die Herrin der Cymrer über das morgendliche Tal bis zum Fuß der Zahnfelsen. Unter ihnen befand sich das Volk, das ihnen erst vor zwei Tagen die Treue geschworen hatte. Der Schmerz und die Trauer über den Verlust waren unverkennbar, doch die Hoffnung ebenso. Als sich die Fir-Bolg-Soldaten mit dem Heer von Roland vereinigten und beim Aufbau und der Bergung halfen, legten die Flüchtlinge aus Serendair und deren Nachkommen ihre alten Vorbehalte ab und reichten über den Abgrund einander die Hände, um ein neues Bündnis des Friedens zu schmieden.

Rhapsody schaute auf das Hörn in ihren Händen. Die Umhüllung war gesplittert, die Magie gebrochen, welche die Sturmumtosten Überlebenden aneinander geschmiedet hatte; sie war aus dem trüb gewordenen Metall ausgelaufen. Dennoch lag Jubel in der Luft und eine Spur von Hoffnung, welche den Untergang der Insel, die Schrecken des Großen Krieges und sogar die Auferstehung der Toten überlebt hatte und fest wie ein Pfahl die gute und helle Zukunft ankündigte.

Sie hob das Hörn an die Lippen und blies hinein. Es war kein Kriegsruf, kein Schlachtruf, sondern ein Siegesruf.

Die Cymrer unter ihr riefen zustimmend und erfüllten die Sommerluft mit ihrem Jubel. Rhapsody machte Platz für Gwydion, der neben ihr stand. Er lobte all jene, die besonders tapfer gekämpft hatten, segnete diejenigen, die gefallen waren, und kehrte zu den Ankündigungen zurück, die er gemacht hatte, als die Erde plötzlich unter ihm gebebt hatte. Er eilte durch seine Bekanntmachungen. Die Sprecher jeder einzelnen Gruppe und andere Tatendurstige waren eingeladen, die Vereinigung und den Umbau der cymrischen Staaten mitzuplanen. Der Rest wurde verabschiedet und gleichzeitig eingeladen, in einem Jahr zu einem neuen Konzil zusammenzukommen, das danach jedes dritte Jahr zusammentreten sollte. Die Hochzeit sollte in drei Monaten am ersten Tag des Herbstes bei dem Ableger der Eiche der tiefen Wurzeln stattfinden, die dort wuchs, wo einmal das Haus der Erinnerung gestanden hatte. Ashe dankte den Cymrern für ihre Teilnahme, ergriff Rhapsodys Hand und führte sie geschwind von dem Sims, bevor die Woge der Glück Wünschenden sie mit sich tragen konnte, wie sie es bereits vor zwei Nächten versucht hatte.

Auf dem Abstieg über den Felshang sah Rhapsody hoch und bemerkte, dass Achmed und Grunthor sie beobachteten. Sie lächelte ihnen zögernd zu. Grunthor starrte sie gerade heraus an, und Achmed schenkte ihr ein schwaches, wissendes Lächeln. Dann war sie fort. Ashe hatte sie aus dem Weg der anwachsenden Menge gezogen.

Von ihrem Versteck auf dem niedrigeren Sims sah Rhapsody zu, wie die Menge allmählich die Senke verließ. Es würde viele Tage dauern, bis auch die Felder um den Gerichtshof wieder verlassen dalagen, denn die Häuser und alten Freunde würden sich zusammentun und zurückbleiben, um ihre Beziehungen zu erneuern. Auch war es eine große Aufgabe, hunderttausend Leute und ihre Habseligkeiten in Bewegung zu setzen. Rhapsody seufzte. Achmed hatte klaglos alles für sie geregelt.

Sie fühlte sich schuldig, weil sie ihm einen so gewaltigen Scherbenhaufen hinterließ. Sie hatte ihn vor den Ankündigungen aufgesucht und seine Erlaubnis zum jährlichen Zugang zum Gerichtshof erwirkt, doch ihre Verlobung hatte sie ihm nicht vorher mitgeteilt. Ihre Verlegenheit darüber war noch immer sehr groß.

Sie spürte ein seltsames Prickeln auf der Haut. Es war eine statische Ladung, die in den Haarspitzen summte und in die Fingerspitzen stach. Dann hörte sie die Stimme und runzelte die Stirn.

»Ich hoffe, du erlaubst mir, dir sowohl zu deiner Wahl als auch zu deiner Verlobung meine ehrlichen Glückwünsche auszusprechen, meine Liebe.« Diese Bemerkung kam entweder aus der Erde selbst oder aus der Luft; Rhapsody war sich nicht sicher.

»Vielen Dank«, sagte sie und wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. »Bitte lass mich allein, Llauron. Ich habe dir nichts zu sagen.«

Ein tiefes Kichern durchlief den Boden, und sie spürte, wie der Wind auffrischte. So war es auch gewesen, als sie Elynsynos besucht hatte. Doch anstatt ihr sanft durch die Haare zu fahren, wie die Luft es in dem stillen Tal vor der verborgenen Höhle getan hatte, blies sie ihr jetzt mit kühner Stärke die Locken um den Kopf.

»Irgendwie bezweifle ich, dass das die Wahrheit ist, meine Liebe.«

Sie bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Du hast Recht. Ich will es anders ausdrücken. Es gibt viele unschöne Dinge, die ich dir jetzt sagen könnte, Llauron, aber das möchte ich nicht. Geh fort und lass mich allein.«

»Das ist schon besser. Es tut mir Leid, dass du so wütend bist, Rhapsody. Natürlich hast du das Recht dazu. Ich hatte bloß gehofft, du würdest etwas von deiner berühmten Versöhnlichkeit auch deinem Schwiegervater zuteil werden lassen. Ich kann dich nicht um Verzeihung bitten, wenn du mich nicht ausreden lässt. Du hast schließlich gesagt, dass wir alle einander verzeihen müssen.«

»Einige Dinge sind unverzeihlich«, ertönte Gwydions Stimme hinter ihr. Sie zuckte unter seinem harschen Tonfall zusammen. »Lass Rhapsody in Ruhe, Vater. Nach dem, was du getan hast, hast du kein Recht mehr, mit ihr zu reden.«