Als sie sich in jener Nacht aus Yarim Paar fortstahlen, an den yarimesischen Wachen mit ihren gehörnten Helmen vorbeischlichen und durch die Gassen einer Stadt huschten, die wie ein trunkener Taugenichts oder ein überwinternder Bär im Schlafe lag, hielt Rhapsody einen Moment lang inne und warf einen Blick zurück auf die ausgetrocknete Fontäne und den toten Quellobelisken. Mögest du eines Tages wieder lebendig werden, dachte sie, und Yarim zu neuer Blüte führen.
Obwohl sie viele Straßen entfernt war, glaubte sie in dem stumpfen roten Lehm ein kurzes Schimmern wie das Zwinkern eines Sterns zu sehen.
9
Der heilige Mann hatte das Gesicht zur Sonne gerichtet und stand am Rande des Winters und der Krevensfelder. Die Berge von Sorbold hatten sie in die südöstliche Ferne wie in einen Albtraum zurückgezogen. Nun lag die endlose, frostige Ebene vor ihm, und der Himmel dehnte sich an allen Seiten bis zum blauen Rand des Horizonts, der nicht mehr von klauenähnlichen Erdhügeln unterbrochen wurde.
In der Jahreszeit des Mondes brach die Nacht schneller herein; eine rote Sonne brannte am Rande der Welt und tauchte die Weiden in blutiges Licht, das sich immer weiter ostwärts erstreckte. Er lächelte. Wie prophetisch.
Seine Gardisten lagerten in einiger Entfernung um ein kleines Feuer im gefrorenen Gras und bereiteten ihr Abendessen vor. Er hatte sie um Nachsicht gebeten und ging langsam zum Rand eines tiefen Tales, angeblich um Luft zu schöpfen. Nun stand er allein und ungestört da und beobachtete, wie der westliche Horizont unter der herannahenden Nacht ein immer dunkleres Rot annahm.
Seit beinahe dreihundert Jahren lagen diese Ländereien brach. Es waren weite, fruchtbare Weidegebiete, in denen sich in späteren Jahrhunderten hier und da Bauern niedergelassen hatten. Diese unerschrockenen Siedler waren in Gruppen von vier bis sechs Familien gekommen, trotzten den bitterkalten Winterwinden sowie den sommerlichen Buschfeuern und lebten unter dem endlosen Himmel. Ohne Ausnahme waren diese Siedler Neuländler, Einwanderer aus dem Süden oder Westen, die keinen Tropfen cymrisches Blut in den Adern hatten. Wenn sie es gehabt hätten, wäre ihnen nicht einmal der Gedanke gekommen, sich hier niederzulassen oder gar Häuser zu bauen und ihre Kinder auf dieser verfluchten Erde großzuziehen.
Die Zeit hatte die meisten Wunden aus dem cymrischen Krieg verwischt. In Tyrian und Sorbold waren die großen Schlachten zu scheußlichem Gemetzel und rücksichtslosen Blutbädern ausgeartet und hatten die Erde unter den unzähligen Gefallenen rot gefärbt. In den nachfolgenden Jahrhunderten jedoch hatte der Wald in Tyrian jene Orte zurückerobert, an denen sich keine lirinsche Seele zum Schlaf niedergelegt hätte. Außer in stürmischen Nächten hatte der Gesang des Windes in den Blättern der neuen Bäume das Gewisper der Schlachtfeldgeister übertönt. Doch bei Sturm versammelten die Lirin-Väter ihre Nachkommen um die warmen Herde ihrer Langhäuser und erzählten ihnen Geschichten von Kriegshexen Gespenster von Witwen, die auf ewig über den Boden des Gemetzels schwebten und ihre Soldatenmänner beweinten, welche noch länger tot waren als sie selbst. Im Süden, in Sorbold, hatten die Berge die Kriegspässe wieder für sich beansprucht. Im Norden, so hieß es, hatte das Blut der Toten Yarims Lehm seine rubingleiche Tönung gegeben; die rote Farbe des Flusses rührte angeblich vom Blut her. Jeder Überlebende aus der Ersten Generation wusste, dass dies eine Legende war. Yarims Boden und Fluss waren seit unvordenklichen Zeiten rot gewesen; der Grund dafür waren die Ablagerungen von Mangan und Kupfer im Vorgebirge der nördlichen Zahnfelsen. In allen Ländern rings um Roland waren es weder Anwyn noch Gwylliam, sondern die Zeit, die den Sieg davongetragen hatte. Die Zeit hatte zuletzt die Erinnerungen an das große Sterben verwischt, auch wenn andere Narben, die Wunden an Seele und Erinnerung, geblieben waren.
Doch hier, in der Senke des Kontinents, im Land zwischen dem Meer und den Bergen, war das Blut der vielen zusammengeflossen, die in jenem glorreichen Krieg gefallen waren. Es war in den Boden eingesickert und hatte ihn fruchtbar und die Luft schwer von Tod gemacht so schwer, dass selbst der stärkste Wind und der heftigste Regen ihn nicht fortwischen konnten. Das war wirklich das Reich der Geister, auch wenn die Bolg diese Bezeichnung für Kraldurge, ihren eigenen Ort der rastlosen Gespenster mitten im Gebirge, gestohlen hatten.
Es war beinahe so weit. Noch ein paar Sonnenuntergänge, ein paar Tage, eine Jahreszeit, vielleicht zwei, und die Zeit war gekommen. Nach all den Jahrhunderten, die er gewartet hatte, würde seine Geduld bald belohnt werden.
Bald hätte er sein Heer beisammen. Dann würde er den Berg einnehmen. Das Kind haben. Sobald er es besaß, war ihm das letzte Ziel sicher. Die Rippe des Kindes, gebildet aus dem Lebendigen Gestein, öffnete die Gruft tief in der Erde, die seit der Vorzeit das Gefängnis für seine Rasse war. Die Gedanken der Vernichtung, die ihn durchrasten, musste er zurückhalten, denn er durfte seine Erregung nicht verraten.
Bald kam der Tag. Alles zu seiner Zeit.
Er warf einen Blick über die Schulter auf die Wachen, die lachten und die Flasche kreisen ließen, dann wandte er sich mit einem Lächeln wieder nach Westen.
In einer plötzlichen Aufwallung von Gewalt biss er sich auf die Zunge und sog das Blut in sich. Dann öffnete der den Mund ganz leicht.
Der heilige Mann atmete die Abendluft ein, füllte sich die Nase mit der stechenden Kälte und dem Geruch trockenen, brennenden Grases. Leise sang er in den Wind so leise, dass es die betrunkenen Lümmel, die sich stolz seine Eskorte nannten, nicht hören konnten.
Wenn sein Gefolge aufmerksam gewesen wäre, hätte es gehört, wie der Geistliche die Namen alter Schlachten flüsterte Augenblicke des Gemetzels, erstarrt in der Zeit. Er atmete ihre Namen ein und wieder aus, umhüllt vom Geschmack und der Schwingung des Blutes. Doch der Tag war lang und ereignislos gewesen, wie die ganze Reise bisher, und die Soldaten waren zu sehr mit ihren Scherzen beschäftigt, zu vertieft in ihre Würfel und Pfeilspiele, um es zu bemerken.
Doch um den Wachen kein Unrecht zu tun, musste der heilige Mann sich eingestehen, dass sie sich hier recht sicher fühlten. Schließlich war nicht zu befürchten, dass sie inmitten dieser endlosen Wiesen und einer Ebene angegriffen wurden, die sich meilenweit in den Horizont erstreckte. Nirgendwo konnte sich ein Feind verstecken; es gab keine Möglichkeit für einen Hinterhalt. Er kicherte beim Gedanken an die Falschheit dieser Unterstellung.
Der Wind wurde kälter. Seine Worte bildeten flüchtige Wolken aus frierendem Dampf und schwebten vor ihm im karmesinroten Himmel, als ob sie zu kummerschwer wären, um auf der Brise Fortzureiten.
Der Überfall auf die Niederung von Farrow, flüsterte er. Die Belagerung von Sethe Corbair.
Der Todesmarsch der cymrischen Nain, die Verbrennung der westlichen Dörfer. Kesel tat, Tomingorllo, Lingental. Eines nach dem anderen, eine Litanei aus Tod und Schande, sanft in den Wind gesprochen. Die Schlacht bei der Festung von Wynnarth, der Überfall auf das Wasserlager von Yarim. Der Anschlag auf das Gesicht des Südostens. Die Verstümmelung der vierten Kolonne. Die Massenexekution der Bauerngehöfte der Ersten Flotte.
Nur der Schnee antwortete ihm, und selbst dieser schien nicht zuzuhören. Eisflocken umwirbelten ihn in der steifen Brise und umhüllten seine Worte und den frostigen Atem, der sie ausgestoßen hatte.