Er spürte, wie die Erregung ihn überkam. Sie begann in den Eingeweiden und strahlte mit jedem Schlag seines schwächer werdenden Herzens weiter nach außen. Die Geister der Toten riefen im Wind, wie sie es seit Jahrhunderten taten; die Qualen in ihren Schreien zitterten in köstlicher Verzückung über seine Haut. Es war der Klang oder genauer das Gefühl des grausamen Leidens und der Gewalt, das in Erde und Luft verblieben war und bei den andauernden Erinnerungen über die Jahre nur langsam versickerte, wie Blut am Boden einer tiefen Schüssel. Selbst diejenigen, die seine einzigartigen Fähigkeiten nicht besaßen, hörten den Lärm und eilten rasch fort von hier. Er konnte ihn natürlich nicht nur spüren; in gewisser Weise durfte er ihn sich sogar zum Verdienst anrechnen.
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Der heilige Mann sog die Schwingungen des Leidens im Wind auf, schmeckte den Tod in seinem Mund und fand ihn köstlich. Sein innerer Dämon schrie vor Entzücken auf, erging sich in orgiastischen Vergnügungen der Vernichtung, die hier stattgefunden hatte und bald wieder stattfinden würde. Es war schwer, nicht von der Ekstase blutiger Erinnerung fortgetragen zu werden.
Nun, Mildiv Jephaston, flüsterte er in den Wind.
»Euer Gnaden?« Der Leutnant stand unmittelbar hinter ihm.
Er drehte sich rasch um und versuchte seine Verärgerung zu verbergen. »Ja, mein Sohn?«
»Ist alles in Ordnung, Euer Gnaden?«
Er bemühte sich, ein Lächeln aufzusetzen. »Ja, natürlich, mein Sohn«, sagte er und steckte die Hände in die Ärmel seiner Robe. »Wie nett von dir, dass du dich um mich sorgst. Brennt das Feuer gut?«
»Recht gut, Euer Gnaden«, sagte der junge Soldat, als sie zusammen zurückgingen. »Das Holz ist ein wenig feucht und fängt schlecht Feuer.«
Der heilige Mann lächelte, als er mit dem jungen Soldaten im Lager ankam. »Vielleicht kann ich behilflich sein«, sagte er. »Ich hatte schon immer eine gute Hand für Feuer.«
Als sie die felsigen Täler östlich der Stadt Yarim Paar erreicht hatten, war es Achmed klar, dass die Leben der Sklavenkinder mit dem Auflesen mindestens eines weiteren Dämonenkindes erkauft waren. Angesichts seiner Abneigung gegen Menschen im Allgemeinen und Kinder im Besonderen war er nicht sonderlich betrübt über diese Entwicklung, aber er vermutete, dass Rhapsody es war.
Neun lebende Bälger des Rakshas und noch eines, das geboren werden musste, über den ganzen Kontinent verstreut es wäre bereits eine entmutigende Aufgabe in einer schneelosen Jahreszeit und wenn die Zeit nicht gegen einen arbeitete. Doch nun, am Beginn des Winters, nur neun Wochen vor der Geburt des letzten Kindes und mit diesem neuen Problem zweifelte er an Rhapsodys Plan, sie alle zu retten.
Er wusste nicht, wie vieler verdorbener Kinder es bedurfte, um die nötige Menge Blut für die Auffindung des F’dor zusammen zu bekommen, und ob diese verrückte Suche wirklich zum Erfolg führen würde. Denn Blut wird das Mittel sein, um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind, lautete die alte dhrakische Prophezeiung. Rhapsody hatte sie gedeutet, den Plan aufgestellt und mit Oelendra, ihrer lirinschen Lehrerin vereinbart, die Kinder nacheinander aufzuspüren und sie zu bewachen, bis alle gefunden waren. Wenn das gelungen war, wollte Rhapsody sie zum Schleier des Hoen bringen, einem Ort, der ihrer Angabe nach berühmt für seine Heilkräfte war.
Mit jedem weiteren Tag war Achmed ungeduldiger und unsicherer geworden, sowohl was den Erfolg dieses Planes als auch die Wahrscheinlichkeit ihres eigenen Überlebens anging. Rhapsody war sicher, dass das Herrscherpaar Rowan, jene rätselhaften Gestalten, die hinter dem Schleier des Hoen lebten, das Blut entnehmen würden, ohne die Kinder zu töten. Sie haben Ashe geheilt, als seine Seele entzweigerissen war, hatte sie behauptet. Die Fürstin ist Hüterin der Träume, Wächterin des Schlafes, Yl Breudivyr. Der Fürst ist die Hand der Sterblichkeit, der Friedliche Tod, Yl Angaulor. Sie sind die Einzigen, die das Blut des Dämons herausziehen können, ohne die Kinder zu töten. Ich weiß, dass das der richtige Ort ist. Wenn ich es bloß rechtzeitig bis dorthin schaffe die Zeit vergeht dort anders. Das weiß ich, weil Oelendra es mir gesagt hat. Wenn uns jemand helfen kann, dann sind sie es.
Er hatte keine Zeit gehabt, mit ihr über eine Abänderung des Plans zu reden; es war eine verzweifelte Flucht aus Yarim Paar gewesen, bevor die Dämmerung anbrach. In der Ferne hinter ihnen hörten sie schwach das Schlagen der Alarmglocken, oder zumindest erschien es ihm so. Vielleicht war es auch bloß Einbildung und Angst. Schließlich hatten sie nur Sklavenkinder gestohlen, die ungesetzliche Arbeit geleistet hatten. Und welcher Dieb zeigt den Diebstahl seines Diebesgutes an?
Diejenigen der rattengleichen Kinder, die bereit waren, menschlichen Kontakt zu ertragen, hatten sich auf der Flucht um Rhapsody versammelt; die anderen versuchten, so weit wie möglich von den beiden fern zu bleiben. Insgesamt waren es zweiundzwanzig. Einige von ihnen ritten abwechselnd paarweise auf den Pferden mit, während andere es vorzogen, die ganze Reise zu Fuß zu machen. Vier hatte man zu je zweien zusammenbinden müssen, damit sie zwar bei der Gruppe, aber fern von den schwächeren Kindern und den Lehrlingen blieben, denen sie ihre schlechte Behandlung während der Gefangenschaft zutiefst verübelten. Das führte zu einer quälend langsamen Reise, aber Rhapsody schien es gleichgültig zu sein.
Auf dem Marsch verbrachte sie viel Zeit mit dem kahlen Lehrling namens Omet, und während der Ruhepause tröstete sie das gelbhaarige Kind, dessen Mutter eine Liringlas gewesen war. Sein Bein war entzündet und würde bald eitern. Sie sang ihre Heillieder und anderes, was die Kinder willfährig machte, und setzte ihre Heilkräuter ein. Als sie nun bei Sonnenuntergang das Lager aufschlugen und für die vielen hungrigen Mäuler die Rationen anbrachen, die eigentlich für eine viel längere Reise gedacht waren, schaute Achmed nach Osten und dachte schweigend nach.
Bis zum Bakhran-Pass, dem zweitnördlichsten Außenposten der Firbolg in den Zahnfelsen, war es eine Reise von weiteren zwei Tagen. Sie waren übereingekommen, alle Kinder mit Ausnahme der beiden Dämonensprösslinge dort in den Händen der bolgischen Garnison zu lassen. Außer Omet waren alle Kinder, die sie gerettet hatten, Waisen, und der Lehrling versicherte Rhapsody, dass auch er nichts in Yarim Paar zurückgelassen hatte.
Achmed verspürte einen Schauer beim Anblick von Rhapsody, die vor dem knisternden Lagerfeuer saß und den Jungen namens Arie im Schoß hielt. Wie Rhapsody selbst, so hatte auch das Kind eine rosige Haut und goldenes Haar; sie waren eindeutig von gleicher Abstammung. Aber an Arie war etwas, das ihn fremdartig machte; es war etwas Wildes, das Achmed beunruhigte. Beinahe schien es ihm, als ob Rhapsody einen in Laken gewickelten Dachs im Schoß wiegte und ihn behandelte, als wäre er ein Liringlas-Kind. Sie schien seine tiefere, gefährliche Natur nicht zu bemerken. Das verhieß nichts Gutes für die Zukunft.
Viele Meilen weiter im Süden, am nördlichsten Rand der Berge von Sorbold, hatte soeben die Wache gewechselt. Die dritte westliche Kolonne war erst vor einer halben Sonnenspanne von den Manövern in Otar zurückgekehrt, einem fernen Stadtstaat, der vor allem wegen des Leinens von Otar’sid, der Hauptstadt, berühmt war.
Es war ein recht leichter Dienst gewesen, die Untersegner zu beschützen, die ihre jährliche Pilgerreise nach Sepulvarta unternahmen, um dem Patriarchen neue weiße Roben für die Zeremonie der Jahressegnung zu bringen, welche in einem halben Jahr zum Frühlingsäquinoktium stattfinden würde.
Die Mission war ohne Zwischenfall beendet worden, und nun lagerten die Soldaten an der westlichen Windschattenseite. Ihre Feuer loderten in der dünnen, kalten Luft auf und bildeten einen hellen See aus Fackeln in der wachsenden Dunkelheit. Am Morgen würden sie nach einem kurzen Marsch wieder im Basislager von Keltar’sid sein. Die Bodentruppen hatten es besonders eilig, in den Stadtstaat der Soldaten zurückzukehren und weiter mit den seltsamen Waffen aus der Produktion der Bolg zu üben, mit denen sie vor ihrer Abreise nach Otar ausgerüstet worden waren. Mildiv Jephaston, der Kolonnenführer, kam von der Wache zurück und bereitete sich gerade auf ein Abendessen und den Schlaf vor, als eine Stimme, die warm auf dem Winterwind ritt, in seinen Ohren prickelte.