Nun, Mildiv Jephaston.
Der Soldat schüttelte den Kopf. Er war es gewöhnt, seltsame Dinge im Wind zu hören, besonders nach einem langen Marsch, doch nie zuvor hatte die Brise so deutlich zu ihm gesprochen.
Und nie zuvor hatte sie ihn beim Namen genannt.
Er hielt inne, rieb sich die Ohren, schüttelte erneut den Kopf, wischte den eingebildeten Ruf beiseite und setzte sich vor das größere der beiden Lagerfeuer, nachdem er sich bei dem Kolonnenkoch seinen Eintopf abgeholt hatte. Er hatte es sich bequem gemacht und wollte essen, als er es wieder hörte diesmal sanfter.
Nun, Mildiv Jephaston.
Wärmer und sanfter, als er es sich selbst hätte zuflüstern können.
Jephaston blickte sich um zu der lagernden Kolonne fünfhundert schliefen, dreihundert hielten Wache, und die hundertzwanzig Kavalleristen befanden sich auf der Weide bei ihren Pferden. »Wer ruft mich?«, fragte er den anderen Kommandanten, der neben ihm saß. Der Mann sah von seinem Eintopf auf, schaute umher und schüttelte dann den Kopf.
Der Kolonnenführer lauschte abermals, hörte aber nichts mehr. Er entschied sich, den Ruf nicht zu beachten, und wandte sich wieder dem Essen zu.
Vielleicht war es das Geräusch seines eigenen Kauens gewesen, das Mahlen der Zähne, das Klappern des Löffels gegen den Metallnapf, das Knistern des Feuers, das Gespräch der Männer, das Lärmen, Johlen, Fluchen, das bei jedem Würfelwurf durch die Nacht gellte. Vielleicht waren eins oder mehrere dieser Geräusche für die Veränderung verantwortlich und verschleierten die stillen Worte, die durch das Ohr in sein Gehirn krochen und eine Verbindung herstellten, schlummernd dort lagen, erst vor kurzem eingepflanzt, und auf die Ankunft des Dämonenbefehls warteten.
Obwohl die Verwandlung kaum merklich war, spürte er sie doch, auch wenn ihm nicht bewusst war, was vor sich ging. Wie Wellen überkam es ihn, endlose Meereswellen, Hitzewellen von einem pulsierenden Feuer, Wellen aus dem warmen Blut eines schlagenden Herzens, die ihn einschläferten, in ihn einsanken, nur in die Oberfläche seiner Seele eindrangen, da kein Blutpakt geschlossen und kein andauerndes Band geschmiedet worden war. Er war nicht auf ewig an den Dämon gebunden.
Aber im Gegensatz zu den anderen, die bei ihren eigenen Feuern lagen und sich ihren eigenen Hitzewellen und Rufen ergaben, hatte Mildiv Jephaston dem F’dor seinen Namen gegeben.
Er war ganz und gar einverstanden mit der neuen Vergrößerung seines Blickfeldes. Alle Gegenstände, ob nah oder fern, konnte er gleichermaßen deutlich erkennen, als ob die Welt ganz flach geworden wäre. Seine eigenen Arme und Beine schienen angenehm weit entfernt zu sein, und die Schmerzen in seinem Rücken ließen nach und verschwanden. Er fühlte sich sehr leicht und stark, als ob er Luft, Wärme und unaussprechliche Ruhe aus der Luft und Wärme um ihn herum zöge.
Und während der Befehl in sein Bewusstsein eindrang und es umgarnte, breitete er sich auch bei jenen aus, die ihm den Treueid geleistet hatten und ohne Zögern seinem Kommando folgten.
Als er schließlich entschlossen aufstand, seine Ausrüstung zusammenpackte, auf sein Kriegspferd stieg und der Kolonne den Befehl zum Ausfall gab, zog niemand auch nur eine Augenbraue hoch, und niemand stellte eine Frage. Die Kolonne marschierte los und folgte ihm in zwei Divisionen, vier Fünftel der Soldaten in der Front, die restlichen kriegsbereit im Abstand von einem Tagesritt vom Gebirge herab auf die Krevensfelder.
Und auf dem Weg nach Navarne.
10
Die Fir-Bolg-Soldaten auf dem Wachtposten in der nördlichen Wüstenei des Bakhran-Passes nahmen die Sklavenkinder ohne nachzufragen in ihre Obhut. Die Kinder wurden in Decken der Soldaten gewickelt und auf zwei Wagen gepackt, die mit der Karawane der zweiten Woche nach Canrif aufbrechen sollten und pünktlich eintrafen.
Achmed gab den Bolg-Soldaten , welche die Sklavenkinder bis zur Übergabe an Grunthor bewachen sollten, ausführliche Anweisungen. Man würde sich in Ylorc um sie kümmern, bis er und Rhapsody zurückkehrten; dann würde ihnen erlaubt werden, entweder hier zu leben oder nach Navarne zu gehen. Die Jungen waren gut gelaunt; schon beim ersten Blick auf die seltsamen Waffen und Rüstungen der Bolg raste die Aufregung wie ein Buschfeuer durch die Gruppe. Nur der kahle Lehrling schien zurückhaltender zu sein und beäugte die Soldaten ängstlich.
Als sich die Karawane für die Reise zum Kessel fertig machte, nahm Rhapsody Omet beiseite.
»Ist mit dir alles in Ordnung?«
Der Lehrling lächelte schwach. »Ich hoffe es. Ich glaube nicht, dass ich eine gute Mahlzeit abgebe, da ich eher zu den Dünnen gehöre.«
»Die Geschichten über Kannibalismus sind stark übertrieben«, beruhigte sie ihn und fuhr liebvoll mit den Fingerspitzen über die Stoppeln, die inzwischen seinen Schädel dunkelten.
»Bei den Bolg bist du sicher. Sprich mit Grunthor und sage ihm, dass ich dich als Arbeiter zu ihm geschickt habe. Sieh ihm in die Augen und sei stark. Das wird dir seine Achtung einbringen. Mach Gebrauch von deinen Fähigkeiten und deiner Phantasie. Ich glaube, du kannst einer der großen Handwerker bei den Restaurierungsarbeiten werden.«
»Vielen Dank.«
»Aber wenn du dich unwohl fühlst oder dir das Leben im Berg nicht gefällt, werde ich bei meiner Rückkehr dafür sorgen, dass du dorthin gebracht wirst, wo du hingehen möchtest.«
Omet nickte. »Kümmere dich in der Zwischenzeit bitte um die Jungen.«
»Das werde ich tun.«
Sie wandte sich nach Südosten, wo eine Spur von Rosa über dem blauen Horizont lag.
»Irgendwo in diesen Bergen ereignet sich etwas Großartiges«, sagte sie. »Du kannst ein Teil davon sein. Geh hin und schreibe deinen Namen in den zeitlosen Fels, damit es die Geschichte sehen kann.« Omet nickte, kletterte in den Wagen zu den Sklavenjungen und fuhr inmitten vieler winkender Hände und Abschiedsrufe über den harschen Schnee davon. Die Dämmerung traf die Reisenden insgesamt vier auf einem Felsen über dem Ufer des Mislet an, eines roten Nebengewässers des Flutflusses. Das Wasser war nun gefroren und schimmerte unter der heranrückenden Dunkelheit in verschwommenem Rosa.
Das Lagerfeuer knisterte im bitterkalten Wind und erfüllte die Luft mit Funkeln. Rhapsody zog ihren Winterumhang enger um sich und versuchte, Wind und Einsamkeit fern zu halten.
Wie lange wird es noch so weitergehen?, dachte sie und schürte das Feuer mit einem langen, dünnen Schilfrohr, das durch die Winterkälte trocken und rissig war. Wie viele Nächte muss ich noch auf der Wanderschaft verbringen? Wann wird sie enden? Wird sie je enden?
Neun lebende Kinder des F’dor und noch eines, das bald geboren wurde. Sie hatten zwei gefunden. In wenig mehr als acht Wochen würde das Kind südlich von Tyrian zur Welt kommen. Wie können wir sie alle rechtzeitig finden? Rhapsody kämpfte die Panik nieder, die sich in ihren Magen verkrallt hatte. Das Wissen, dass Oelendra an der Grenze zu Canderre schon seit drei Tagen auf sie wartete, um die Kinder, die sie bereits entdeckt hatten, in Empfang zu nehmen, machte das unangenehme Gefühl nur noch schlimmer.
Ein leises, bebendes Seufzen gesellte sich zum Heulen des Windes. Sie riss sich von ihren Gedanken los und schaute auf. Arie hatte sich entschieden, neben den Pferden zu schlafen, fern von den Erwachsenen und Vincane, der nun vor dem Feuer in einen Kräuterschlaf versunken war. Rhapsody stand auf, spürte die Kälte in ihren Knochen und ging zu dem Kind. Sie kniete sich neben es und untersuchte sein entzündetes Bein. Dabei sang sie ein leises Lied, das seine Schmerzen im Schlaf lindern sollte, und begab sich schließlich zurück zu ihrem Platz am Feuer neben Achmed.