Er starrte nach Westen in die Ferne, hatte das Gesicht verhüllt, und in seinen Augen lag ein nachdenklicher Ausdruck. Rhapsody wartete darauf, dass er etwas sagte. Erst als die Sonne hinter den Horizont sank, redete er.
»Wir schaffen es nicht bis zum Karneval oder bis nach Sorbold, bevor das letzte Kind geboren wird.«
Rhapsody seufzte. Wie immer sprach Achmed ihre Gedanken aus. Das älteste Kind des Rakshas war ein junger Mann, ein Gladiator in Sorbold, in der im Nordwesten gelegenen Stadt Jakar. Achmed war nie von dem Gedanken begeistert gewesen, dieses Kind zu retten, doch Rhapsody hatte darauf beharrt, und schließlich hatte er eingewilligt, falls es die Zeit erlauben sollte. Vor ihrem Rückweg nach Ylorc hatten sie beabsichtigt, den Gladiator, dessen Name Constantin lautete, außerhalb von Sorbold auf dem Winterkarneval von Navarne anzutreffen. Doch wenn sie dort ankommen würden, wäre der Karneval bereits vorbei und Constantin nach Sorbold zurückgekehrt. Es schien, dass die Rettung der Sklavenkinder mit der Verdammnis des Gladiators erkauft worden war.
»Das Kind wird in den Lirin-Feldern südlich des Waldes von Tyrian zur Welt kommen«, sagte sie milde und beobachtete den Sonnenuntergang. »Wir werden bald in diesem Gebiet sein. Wir könnten nach Sorbold gehen, wenn Oelendra uns das Kind aus den Händen genommen hat.«
»Nein.« Achmed warf ein wenig gefrorenes Gras ins Feuer. »Das ist zu gefährlich. Wenn ich geschnappt werde, während ich heimlich in Sorbold bin und ein so wertvolles Gut wie einen Gladiator stehle, wird das als kriegerische Handlung angesehen. Wie ich dir von Anfang an gesagt habe, besteht diese Mission nicht darin, die Seelen der Kinder zu retten, sondern das Blut einzusammeln, das wir aus ihnen gewinnen können.«
»Das ist vielleicht deine Meinung.« Rhapsody sah ihn nicht an. »Wie ironisch«, fuhr sie mit einer Spur Bitterkeit in der Stimme fort. »Das bedeutet, dass wir nicht besser sind als der Rakshas. Wir binden Kinder wie die Schweine zusammen und schlachten sie im Haus der Erinnerung. Ich vermute, das Blut ist alles, ob du nun gute Absichten hast oder nicht.«
»Es kommt auf den Blickwinkel an, Rhapsody.«
»Ich werde ihm folgen«, sagte sie sanft, während sie die versinkende Sonne betrachtete. »Ich schätze sehr, was du getan hast und noch tun wirst, aber ich werde ihn nicht aufgeben. Ich verstehe deine Bedenken und darf dich nicht darum bitten, dein Königreich für diese Angelegenheit aufs Spiel zu setzen. Aber ich gehe nach Sorbold, selbst wenn ich allein gehen muss.«
Achmed seufzte. »Das würde ich dir nicht raten.«
»Ich kann Llauron um Hilfe bitten.«
»Das würde ich dir noch weniger raten.«
»Du lässt mir keine andere Wahl«, sagte Rhapsody und suchte den Himmel nach den ersten Sternen ab. Sie wartete auf ihr Erscheinen, um die Abendgebete zu verrichten.
»Lass ihn laufen. Wenn diese Sache vorbei ist, werde ich ihn zur Strecke bringen und aus seinem Elend erlösen. Du weißt, dass ich als Dhrakier es nicht ertragen kann, wenn jemand mit F’dor-Blut am Leben gelassen wird.«
»Damit verdammst du ihn in die Gruft der Unterwelt.« Es war eine rein mechanische Bemerkung; sie hatten schon viele Nächte ohne Ergebnis über diesen Punkt gestritten. Achmed zuckte die Schultern. »Wenn du willst, besprenge ich die Asche seines Leichnams mit heiligem Wasser.«
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»Nein, vielen Dank.«
»Nun, da ist immer noch Ashe. Er könnte die anderen zusammentreiben. Du hast ihn einmal im Wind gerufen, und er ist gekommen.«
Rhapsody erzitterte. »Ja, das habe ich getan, aber da stand ich auf einer Aussichtsterrasse in Elysian, die als natürlicher Verstärker wirkte. Ich weiß nicht, ob es im Freien auch funktioniert. Außerdem weißt du sehr wohl, dass ich Ashe nichts von diesen Kindern sagen will, solange ich nicht vom Schleier des Hoen zurück bin.«
Achmed ballte die Faust noch fester, aber sein Gesicht zeigte keine Regung. »Er hat den Schutz nicht verdient, den du um ihn legst wie eine Kinderdecke«, sagte er verbittert.
»Vielleicht würde es ihm gut tun, seine eigenen Schlachten zu schlagen und für seinen Hintern selbst verantwortlich zu sein. Es macht mich krank, wenn ich mit ansehen muss, wie du ihm als Fußabtreter dienst.«
Das licht der untergehenden Sonne füllte ihre Augen; schmerzende Erinnerungen suchten sie heim. »Warum hasst du ihn?«
Achmed sah sie nicht an. »Warum liebst du ihn?«
Schweigend schaute sie über die endlosen Felder zum Horizont, der sich nun verdunkelte. Der rosafarbene Schimmer des Sonnenuntergangs wich aus den Wolken und ließ ein verschwommenes Grau zurück, wo noch vor einem Augenblick strahlende Pracht geherrscht hatte. Schließlich sagte sie mit sanfter Stimme:
»Es gibt keinen Grund für Liebe. Sie ist einfach da. Und wenn sie da ist, hat sie Bestand, auch wenn sie es nicht haben sollte. Selbst wenn man versucht, sie fortzuscheuchen. Es ist schwer, sie zu ersticken. Ich habe gelernt, dass es außerdem unnötig ist und unklug. Es erniedrigt dich bloß. Du musst sie annehmen. Schließ sie weg oder nimm sie an. Du kannst Liebe nicht vorsätzlich töten. Man kann nichts gegen sie unternehmen.«
Sie warf einen Blick in seine Richtung und bemerkte, dass er hinter den Rand der Welt schaute. Er hatte die gefalteten Hände an die Lippen gelegt und war in Gedanken verloren.
»Aber Hass ist anders. Wenn du hasst, solltest du wenigstens einen Grund dafür haben.«
Achmed sog den kalten Wind der herannahenden Nacht ein und stieß die Luft langsam wieder aus.
»Ich hasse nicht. Ich habe das Hassen aufgegeben. Aber ich verachte Ashes Versprechungen, seine unangebrachte Loyalität, seine Schwäche.«
Rhapsody fuhr mit der Hand über einen dürren, hohen Grashalm, der ausgebleicht und erstarrt aus dem Schnee hervorstach.
»Er ist nicht mehr schwach. Ich habe gesehen, was er aushalten kann, Achmed. Selbst in all seinem Schmerz und seiner Einsamkeit hat er seine Zeit damit verbracht, die Unschuldigen zu schützen und den Dämon zu finden, der seine Seele gefangen hielt. Er ist jetzt vollständig. Er ist stark.«
»Du missbrauchst dieses Wort. Ich hatte geglaubt, Benenner seien genauer in der Anwendung von Sprache. Er ist geheilt. Aber die Heilung hat keinen Gott aus ihm gemacht. Er wird dich wieder betrügen, im Stich lassen, den Griff um dich lockern, während du in der Luft schwebst, Augenblicke zu spät eintreffen. Das alles habe ich bei ihm schon beobachtet.« Er sah sie an; ihre Blicke trafen sich. »Und du auch.«
Sie zog den Grashalm aus dem gefrorenen Boden. »Du weißt nicht, wovon du sprichst.«
»Ich glaube, ich weiß es.«
Die Samenkörner glitten zwischen ihren Fingern hindurch und verteilten sich auf dem Schnee.
»Es ist leicht, etwas zu bemäkeln, das du als Schwäche ansiehst, weil du es nie erlebt hast. Aber wenn du selbst nie verliebt gewesen bist und nie die Liebe gegen die Pflicht hast abwägen müssen, dich niemals ganz in der Liebe verloren hast, kannst du nicht...«
»Halt ein!« Die Worte kamen so heftig hervor, dass Rhapsody die Überreste des Grashalms fallen ließ. »Woher willst du das wissen? Woher willst du wissen, dass mir unbekannt ist, wie schwach die Liebe dich machen kann? Wieso wagst du es anzunehmen, dass ich jemanden verdammen könnte, ohne selbst auf diesen Pfaden gewandelt zu sein?«
Endlich sah Achmed sie wieder an; seine Augen strahlten in dunklem Licht. »Ich weiß alles über die Versprechungen der Jugend. Ich kenne diese dumme Niederlage, dieses Verlangen, das Unrettbare zu retten, von dem dir die Liebe einredet, es sei möglich. Das ist es, was ich am meisten an Ashe verachte: dass er dich zu dem Glauben verführt hat, er könne dich retten oder du ihn. Dass er dir eingeredet hat, du müsstest gerettet werden. Dass er es wert sei, gerettet zu werden, auch um den Preis, den du gezahlt hast.«
Er wandte den Blick ab und starrte auf die frische Dunkelheit am Rande des Horizonts. Rhapsody betrachtete Achmed einen Moment lang und schaute dann selbst nach Westen.