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Die beiden Frauen, die gegenwärtige Ilianchenva’ar und diejenige, welche die Tagessternfanfare in einem vergangenen Leben getragen hatte, umarmten sich auf dem windigen Hügelkamm.

»Du bist müde«, bemerkte die lirinsche Meisterin und strich eine goldene Haarlocke aus Rhapsodys Augen.

Rhapsody lächelte. »Und außerdem bin ich zu spät«, entgegnete sie. »Das tut mir Leid.«

Oelendra nickte. »Was hat dich aufgehalten?«

Rhapsody schlang den Arm um die Hüfte ihrer Lehrerin. »Komm mit mir, und ich werde es dir zeigen.«

Achmed hatte den herannahenden Frauen den Rücken zugewandt. Die Nacht war nun vollständig hereingebrochen, und der Himmel war dunkel, als sie Oelendras Reittiere, zwei Rotschimmelstuten, in eine kleine Baumgruppe neben Achmeds und Rhapsodys Pferde führten.

Rhapsodys Augen leuchteten, als sie ihre Lehrerin zum Feuer brachte und Achmed vorstellte.

»Achmed, das ist Oelendra. Oelendra, das ist Seine Majestät, König Achmed, Kriegsherr des Reiches von Ylorc.«

Achmed stand langsam auf und wandte sich in die Feuerschatten. Sein zweifarbiger Blick ruhte nun auf der lirinschen Meisterin, die ihn ernst erwiderte. Einen Moment später wurde ihr Blick etwas härter, dann entspannte sie sich wieder, blieb aber zurückhaltend. Der Fir-Bolg-König betrachtete die lirinsche Meisterin flüchtig und wandte sich dann ab. Er streckte die behandschuhte Hand aus und zog einen Kessel vom Lagerfeuer.

»Hungrig?«

Oelendra betrachtete ihn immer noch. Rhapsodys Blick lief vom einen zum anderen, während die Stille immer drückender wurde. Schließlich ergriff sie Oelendras Hand.

»Ich schon. Warum verteilst du es nicht, Achmed?« Sie führte ihre Lehrerin zur anderen Seite des Feuers, wo der Lirin Junge kauerte, und kniete sich neben ihn. »Das ist Arie, Oelendra. Arie, Oelendra ist meine Freundin. Sie wird dir nichts tun.«

Sie wandte sich an die lirinsche Meisterin, die den Jungen eingehend ansah. »Ja«, sagte Rhapsody, als sie ihre Gedanken las. »Seine Mutter war offenbar eine Liringlas.«

»Ja.« Oelendra fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Verstehst du, was das bedeutet?«

»Dass es hier auf dem Kontinent noch weitere Liringlas gibt, von denen du und Rial nichts wusstet?«

»Möglich.« Oelendra starrte einen Moment lang ins Feuer. »Es könnte auch bedeuten, dass der Rakshas das Meer nach Manosse oder vielleicht nach Gaematria, der Insel der Meeresmagier, überquert hat. Dort gibt es Liringlas, oder wenigstens hat es sie gegeben. Wenn das der Fall ist, wer weiß, wie viele Frauen er dann geschwängert hat?«

Rhapsody erzitterte, schüttelte aber den Kopf. »Nein. Rhonwyn sagte, es seien nur neun lebende und eines, das noch geboren wird. Und als wir sie fragten, war der Rakshas schon tot.«

Oelendra seufzte erleichtert. »Gut. Das hatte ich vergessen. Gut.« Ein schwaches Lächeln flog über ihr Gesicht, während sie nachdenklich das Kind ansah. »Hallo, Arie«, sagte sie in der Sprache der Liringlas. »Haben sie dich gut behandelt?«

Das Kind erbebte. »Ja«, antwortete es flüsternd.

Oelendra wandte sich wieder an Rhapsody. »Er kennt die Sprache unseres Volkes, aber er ist offensichtlich nicht von Liringlas aufgezogen worden. Was sagt dir das?«

Rhapsody streichelte dem Kind über den Kopf. »Glaubst du, er hat ein angeborenes Talent zum Sänger?«

Achmed reichte beiden Frauen Krüge mit Suppe; Arie erhielt einen eingedellten Stahlbecher. Oelendra nickte zum Dank und hob das Gefäß an die Lippen. Sie nahm einen tiefen Schluck und betrachtete dann wieder das Kind.

»Das weißt du besser als ich«, sagte sie schließlich. »Aber das ist die wahrscheinlichste Erklärung.«

»Nun, es gibt nur einen Weg, um es herauszufinden«, meinte Rhapsody. Sie setzte sich mit gekreuzten Beinen neben das Kind. »Arie, würdest du bitte den Strumpf herunterziehen und Oelendra dein Bein zeigen? Ich verspreche dir, dass sie es nicht anrühren wird«, fügte sie hastig hinzu, als sie die Angst im Gesicht des Kindes bemerkte. Oelendra nickte zustimmend.

Langsam und mit zitternden Händen zog der Junge den Strickstrumpf herunter. Im Feuerschein war das entzündete Bein schwarz und die heilende Haut deutlich am Rande sichtbar. Es roch schwach nach Thymian.

»Ich habe es mit Kräutern eingerieben, seit wir ihn zu uns genommen haben. Allmählich wird es besser; zuerst war es brandig«, erklärte Rhapsody Oelendra. Sie wandte sich wieder an den Jungen: »Kannst du mir deinen Namen vorsingen, Arie?«

»Wie bitte?«, fragte das Kind nervös.

»Wähle einen Ton aus, der dir richtig erscheint, und singe deinen Namen, etwa so.« Rhapsody stimmte seinen Namen an: Arie.

Der Junge schluckte und kam dann der Bitte nach. Arie, sang er leise.

Rhapsody sah Oelendra an. »Sol«, sagte sie. »Sein Namenston ist Sol, die fünfte Note der Tonleiter. Möglicherweise hat er irgendwo ältere Geschwister. Wenn er der Erstgeborene wäre, wie du, Oelendra, dann würde sein Ton Ut lauten.« Sie sah Achmed nicht an, der ebenfalls ein Erstgeborener war. Oelendra nickte ernst.

»Also gibt es irgendwo auf diesem Kontinent weitere Liringlas-Kinder, die jetzt mutterlos sind.«

Rhapsody seufzte. »Ja.« Sie besah das Bein eingehend; es hatte sich nicht verändert.

»Versuch es bitte noch einmal, Arie. Denk einfach daran, dass dein Bein besser wird.«

Das Kind sang die Note erneut, doch ohne erkennbaren Erfolg. Oelendra zuckte die Achseln. Rhapsody seufzte stumm, dann kam ihr ein Gedanke.

»Vielleicht hat seine Mutter nicht lange genug gelebt, um ihn zu sehen«, meinte sie leise zu Oelendra. »Alle Kinder des Rakshas sind Waisen; ihre Mütter sind bei der Geburt gestorben. Vielleicht ist Arie nicht sein richtiger Name.«

»Möglich. Aber woher willst du wissen, wie sein richtiger Name lautet?«

Rhapsody streichelte den Jungen und setzte sich zurück. Das Feuer wärmte ihre Schultern.

»So etwas herauszufinden ist ein langer und schwieriger Prozess, wenn der Betreffende nicht weiß, welcher Name ihm gegeben wurde«, sagte sie nachdenklich. »Es würde viel mehr Zeit beanspruchen, als wir haben, da wir uns auf Versuch und Irrtum verlassen müssen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Mutter ihrem Kind überhaupt einen Namen gegeben hat. Vielleicht ist sie gestorben, bevor sie das tun konnte.«

»Du könntest leider Recht haben. Er könnte seinen Namen von einem filidischen Priester oder einem Liringlas-Benenner bekommen haben, falls es noch welche gibt. Oder von einem zufällig vorbeikommenden Fremden oder sogar von einem Feind, da er als Sklave geendet ist.«

Die Hitze in Rhapsodys Rücken erinnerte sie an Bäder in ihrer Kindheit vor dem brennenden Ofen. Sie schloss die Augen und versuchte, sich das Gesicht ihrer Mutter vorzustellen. Es gelang ihr nicht.

»Vielleicht hat sie ihn bloß ›Kind‹ genannt, weil sie in ihrer Schwäche nicht einmal wusste, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist.« Sie aß ihre Suppe auf, wartete darauf, dass auch der Junge sein Mahl beendete, und beugte sich wieder vor.

»Arie, kannst du ein anderes Wort für mich singen?« Das Kind nickte. »Gut! Hör dir das Wort an, das ich gleich sage, und dann singe es, wie es dir richtig erscheint. Hier ist es:

Pippin.« Sie schenkte dem Kind ein ermutigendes Lächeln und sah, wie sich die Wärme in seinen klaren blauen Augen widerspiegelte.

Arie holte tief Luft, zuckte vor Schmerz zusammen und sang dann das Wort Pippin in der Note Sol.

Oelendra und Rhapsody lauschten verzückt. Nach einem Augenblick untersuchten sie eingehend sein Bein und sahen sich danach gegenseitig an. Es war keine sichtbare Veränderung eingetreten.

Die lirinsche Meisterin klopfte dem Kind sanft auf die Schulter und wollte aufstehen, doch Rhapsody bedeutete ihr zu warten.

»Das war sehr gut, Arie. Ich werde jetzt mein Schwert ein wenig aus der Scheide ziehen das ist schon in Ordnung«, fügte sie rasch hinzu, als sich die klaren blauen Augen des Kindes mit Furcht umwölkten. »Nur ein kleines bisschen, damit ich es anfassen kann. Ich verspreche dir, dass es nicht heller als das Lagerfeuer sein wird. Einverstanden?«