Das Kind war bezaubert vom Leuchten ihrer grünen Augen und nickte wieder, als wäre es hypnotisiert. Rhapsody packte die Tagessternfanfare am Griff unmittelbar über dem Querstück und zog sie langsam aus der schwarzen Elfenbeinscheide. Sie zwang sich zur Ruhe und sandte diesen Gedanken auch in das Schwert.
Zur Antwort auf ihren Befehl brannte die winzige Flamme still und tief. Das elementare Band des Feuers zwischen ihnen flammte auf, und sie war wieder eins mit dem Schwert. Sein Gesang erfüllte ihre Seele, während sich ihr Geist aufhellte.
Sie sah das Kind wieder an und versuchte sich seine tragische Geburt und den hastigen Aufbruch der gemarterten Seele seiner Mutter ins Licht vorzustellen, als es auf die Welt kam, vor etwa acht oder neun Jahren, wenn sie richtig geschätzt hatte. Tränen von Mitleid und Wut traten ihr in die Augen, als sie sich vorstellte, wie sich die Frau im Griff der Schmerzen wand, die sie unzweifelhaft gespürt hatte Schmerzen, die mit ihrer Vergewaltigung vor einem Jahr oder mehr begonnen hatten und die sie sicherlich jeden Tag der vierzehnmonatigen Schwangerschaft einer Liringlas begleitet hatten.
Ihre Hände zitterten aus einem ihr unbekannten Grund, und sie hörte die harsche, vieltönige Stimme Manwyns wieder in ihrem Kopf.
Ich sehe die Geburt eines unnatürlichen Kindes, hervorgegangen aus einer unnatürlichen Verbindung. Nimm dich vor der Geburt in Acht, Rhapsody: Die Mutter wird sterben, das Kind aber wird überleben.
Was hat die Wyrmkin damit gemeint?, fragte sich Rhapsody benommen. War dies das Kind? Oder war es das noch nicht geborene Lirin-Kind? Oder hatte Manwyns Prophezeiung etwas mit ihr selbst zu tun?
Konzentriere dich auf das Kind vor dir.
Rhapsody schüttelte den Kopf, und sofort klärten sich ihre Gedanken. In den Tiefen ihres Seins hatte sie eine Stimme gehört eine Stimme, die sie nie zuvor vernommen hatte. Vielleicht war es die Stimme des Schwertes. Oelendra hatte ihr vor vielen Monaten während der Ausbildung gesagt, das Schwert habe eine Stimme, wenn sie es bei sich trage eine Stimme, die erst dann schweigen würde, wenn das Schwert und Seren, der Stern, aus dem es geformt war, für immer getrennt werden sollten. Vielleicht war es auch nur die Stimme ihrer eigenen Vernunft gewesen, die zu ihr sprach und sie zur Besinnung brachte.
Sie lächelte Arie abermals an. »Noch einmal? Willst du es mir zuliebe noch einmal versuchen, Arie?«
»Ja.« Seine Stimme war fast unhörbar.
»Gut. Singe nun das für mich: Y Pippin.« Mein Kind.
Y Pippin, sang der Junge mit brechender Stimme.
Erneut untersuchten die beiden Frauen das Bein. Am Rande der eiternden Wunde, wo die Haut zuvor noch rot gewesen war, hatte sich die Entzündung vor ihren Augen zurückgezogen. Das eiterige Innere war zu einem dunkleren Rot und das Schwarz zu Rosa geworden. Die Wunde war noch da, aber sogar im schwachen Licht des Lagerfeuers war deutlich zu sehen, dass sie sich gebessert hatte.
»Sieh dir das an«, murmelte Oelendra.
»Ich wusste von Anfang an, dass er etwas Besonderes ist«, sagte Rhapsody stolz. »Das ist ein Beweis dafür, dass auch aus dem Bösesten noch etwas Gutes erwachsen kann.«
Oelendra tätschelte das Kind und stand plötzlich auf. Sie starrte über den Feuerkreis hinweg auf den Baum, an dem Achmed Vincane angebunden hatte.
»Und was haben wir da?«, fragte sie.
»Zwei Huren und den hässlichsten Bastard der Welt«, antwortete der Junge mit einem höhnischen Grinsen.
Mit übertriebener Langsamkeit ging Oelendra über die Lichtung und hockte sich vor Vincane, sodass sie auf Augenhöhe mit ihm war. Die Muskeln an ihrem Rücken zuckten bedrohlich, als sie sein Gesicht betrachtete. Selbst von ihrem Platz aus konnte Rhapsody erkennen, wie Vincane unter dem Blick der lirinschen Meisterin erschlaffte. Sie kicherte, denn sie hatte bei mehr als einer Gelegenheit diesen kriegerischen Blick auf sich ruhen gespürt. Es war ein tödlich gelassener, eindringlicher Blick, und er durchbohrte die Seele aus grauen Augen, die mehr Zerstörung gesehen hatten, als man sich vorstellen konnte.
»Entschuldigung«, sagte Oelendra mit fester Stimme. »Ich fürchte, ich habe dich nicht verstanden. Was hast du gesagt?«
Der Junge versuchte sich noch enger gegen den Baum zu drücken. Seine Frechheit war verschwunden; Panik hatte ihn ergriffen.
»Dein Name«, sagte Oelendra.
»Vincane«, antwortete der Junge mit brechender Stimme.
»Wie schön, dich zu treffen, Vincane. Ich bin sicher, wir werden hervorragende Reisegefährten sein. Ich glaube, ich werde dich während unserer Reise nicht mehr ermahnen müssen, nicht wahr?«
»Nein«, sagte der Junge hastig.
»Das hatte ich auch erwartet.« Sie kehrte zum Feuer zurück, wo Rhapsody Arie gerade in eine Decke wickelte, und nickte Achmed zu, der sich zu ihnen gesellte, nachdem er Vincanes Fesseln überprüft hatte.
»Ihr wollt also die anderen holen?«, fragte Oelendra.
»Ja«, antwortete Rhapsody.
»So viele, wie es unsere Zeit erlaubt«, warf Achmed ein, der nach einem bedeutungsschweren Blick auf den Gefangenen in die alte lirinsche Sprache fiel. »Wir hatten gehofft, den Gladiator bei oder nach dem Winterfest zu fangen, aber das ist jetzt nicht mehr möglich.«
Oelendra nickte. »Was habt ihr als Nächstes vor?«
Rhapsody schaute hinüber zu den beiden Kindern. Arie schlief fest, und Vincane schien in einen leichten Schlummer gefallen zu sein, doch es war schwer zu sagen, ob er das nicht nur vorspielte.
»Hintervold«, erwiderte sie. »Rhonwyn sagte, dass es dort zwei Kinder gebe, und eines in Zafhiel. Die anderen befinden sich in Roland und der Neutralen Zone, also näher bei dir. Es sollte uns möglich sein, sie alle zu bekommen, doch es wäre gut, wenn wir den Ältesten erwischen, bevor das Kind geboren wird. Danach werden wir entscheiden, wie wir an den Gladiator herankommen.«
Achmed stieß verärgert die Luft aus. Er sprach nur wenig Alt-Lirin, doch er hatte ihre Worte erwartet.
»Vielleicht erwischen wir nicht einmal die anderen. Der Winter wird immer härter. Noch ein paar Schwierigkeiten wie die in Yarim, und wir müssen einen oder sogar mehrere laufen lassen.«
»Nein«, sagte Rhapsody fest. »Wir werden sie alle bekommen. Wir müssen es. Jemand muss es. Es sind doch Kinder.«
»Es sind keine Kinder, sondern Abscheulichkeiten«, warf Oelendra ein. Sowohl Rhapsody als auch Achmed sahen sie erstaunt an. »Ich kann nicht glauben, dass dir das nicht klar ist, Rhapsody. Sieh sie dir doch einmal an. Vielleicht sind sie süß und scheu, vielleicht auch böse und grausam auf alle Fälle sind sie halb dämonisch. Kannst das nicht erkennen?«
Achmed lächelte schwach. »Vielen Dank.« Er wandte sich wieder an Rhapsody. »Jetzt hast du es von jemand anderem gehört; vielleicht schenkst du mir nun Glauben.«
»Ich bin verblüfft«, murmelte Rhapsody nach einem Augenblick. »So etwas hätte ich von Achmed erwartet, nicht aber von dir, Oelendra. Wie kannst du diese Kinder wegen ihres Vaters verdammen? Sie haben es schon schwer genug. Es sind doch nur Kinder, genau so, als wenn ihr Vater ein Dieb oder Mörder wäre. Sieh dir Arie an. Um Himmel willen, er ist ein Liringlas!«
»Seine Mutter war eine Liringlas«, sagte Oelendra ernst. »Er ist eine Missgeburt mit Liringlas-Vorfahren; das ist nicht dasselbe. In den Adern dieser beiden Kinder fließt das Blut des Dämons, Rhapsody, eines F’dors. Du scheinst nicht zu begreifen, was das bedeutet. In den alten Zeiten gab es viele F’dore, aber ihre Anzahl war begrenzt. Es existierte ein ganzes Pantheon, und die mächtigsten wurden sogar in alten Manuskripten mit Namen und Neigung genannt. In der Ober und Unterwelt bedeutete es eine Plage weniger, wenn einer von ihnen durch einen Dhrakier getötet wurde, während er sich noch in einem Körper befand. Irgendwie hat ein besonders gewitzter F’dor einen Weg gefunden, sein Blut weiterzugeben, ohne sich dadurch zu schwächen. Das ist eine höchst beunruhigende Wendung. Durch den Rakshas hat der F’dor seine dämonische Linie weitergeführt, was eine sehr gefährliche Tür in die Zukunft aufstößt. Diesem Problem werden wir uns sehr bald stellen müssen.