Trotz Tristans Einfluss war es Llaurons Ansicht nach unwahrscheinlich, dass der Patriarch Ian zu seinem Nachfolger bestellen würde. Zwar war Ian Steward ein liebenswerter Mann mit anscheinend gutem Herzen, aber er war noch recht jung und zu unerfahren, um eine solch gewaltige Verantwortung übertragen zu bekommen. Doch vielleicht würde gerade wegen seiner Jugend die Wahl des Patriarchen auf ihn fallen. Einige andere Seligpreiser waren fast so alt wie der Patriarch und würden für eine unausweichliche Unbeständigkeit sorgen, wenn sie selbst in wenigen Jahren den Lohn des jenseitigen Lebens empfangen würden.
Zwei der besten Beispiele für dieses Problem waren die nächsten beiden, die ausstiegen und sich dabei gegenseitig stützten. Lanacan Orlando, der kräftigere der beiden, war der Segner von Bethe Corbair und hielt die Gottesdienste in seiner Stadt unter dem heiligen Glockenturm in der wundervollen Basilika von Ryles Cedelian ab, der dem Wind geweihten Kathedrale. Der stille und bescheidene Lanacan war als fähiger Heiler berühmt und womöglich genauso begabt wie Khaddyr, doch große Menschenansammlungen machten ihn nervös, und er besaß keine wirkliche Ausstrahlung. Llauron hielt ihn kaum für einen wahrscheinlichen Nachfolger und war recht sicher, dass Lanacan erleichtert wäre, wenn er wüsste, dass er nicht auf der Liste stand.
Colin Abernathy, der Segner der Neutralen Zone im Süden, der sich auf Lanacan stützte, während sie über den gefrorenen Pfad schritten, war älter und gebrechlicher als sein Freund, aber politisch mächtiger. Doch er hatte keine Basilika, in der er Messen lesen konnte. Dieser Umstand kam Llauron oft in den Sinn, wenn er darüber nachdachte, wer der Wirt des F’dor sein könnte. Ein dämonischer Geist wäre nicht in der Lage, auf geweihtem Boden zu stehen, und die Basiliken waren der heiligste Grund und Boden, den es gab. Die fünf Elemente selbst heiligten den Boden, auf dem sie errichtet waren. Sogar ein F’dor mit gewaltiger Macht könnte an einem solchen Ort nicht überleben.
Aber Colin Abernathy musste das auch nicht. Seine Messen las er in einer großen Arena, einer ungesegneten Basilika, wo er sich um eine Gemeinde kümmerte, die sich aus vielen verschiedenen Gruppen zusammensetzte Lirin aus der Ebene, Einwohner von Sorbold, die zu weit entfernt von ihrer eigenen Kathedrale lebten, um dorthin zu pilgern, Seeleute aus den Fischerdörfern noch weiter im Süden und die große Gruppe der Unzufriedenen.
Abernathy war die zweite Wahl bei der Nachfolge des letzten Patriarchen gewesen und dem gegenwärtigen unterlegen, und seitdem zürnte er der Kirchenführung. Wenn er der Wirt des F’dor war, würde er sich bald nach einem jüngeren Körper umsehen; das wusste Llauron. Aber der Fürbitter war eher geneigt zu glauben, dass die Bestie nicht in einem Mitglied der Geistlichkeit steckte, sondern in einem der Provinzführer, was die Möglichkeit eröffnete, dass es sogar sein guter Freund Stephen war.
Der vierte Seligpreiser wartete eine große Fanfare ab, um auszusteigen. Philabet Griswold, der Segner von Avonderre-Navarne, der über die große Wasser-Basilika Abbat Mythlinis herrschte, war jünger als die beiden ältlichen Seligpreiser, aber alt genug, um die Weisheit des fortgeschrittenen Lebens für sich zu beanspruchen. Er war prunksüchtig und wichtigtuerisch;
Llauron empfand seine Anmaßung abwechselnd als ärgerlich und belustigend. Griswold hatte kein Geheimnis aus seinem Verlangen gemacht, Patriarch zu werden, und mit dem Aussteigen gewartet, bis die heilige Hymne von Sepulvarta gespielt wurde. Sein Gefühl für den richtigen Augenblick war unfehlbar; es hatte den Anschein, als werde die Hymne ihn zu Ehren gespielt. Das dunkle Gesicht Nielash Mousas, des Segners von Sorbold, glich einer Gewitterwolke, als er kurz hinter Griswold aus seinem Wagen stieg. Ihr Wettstreit um das Patriarchat, den sie aus politischen Gründen lange geheim gehalten hatten, war nun zu einem offenen Kampf um den kirchlichen Thron von Sepulvarta geworden. Mousa war aus seinem kargen Land hergekommen, hatte dem Schnee und den schlechten Reisebedingungen getrotzt, um beim Winterkarneval öffentlich aufzutreten. Seine Basilika war die einzige der fünf Elementarkathedralen, die sich nicht innerhalb des Staatsgebiets von Roland befand. Terreanfor, der Tempel der Erde, lag tief in den nördlichen Zahnfelsen von Sorbold, versteckt innerhalb des Nachtberges. Seine Kandidatur für das Patriarchat war ein harter Kampf; das wusste Llauron. Der Wettstreit zwischen Mousa und Griswold würde blutig werden.
»Ah, Euer Gnaden, ich sehe, Ihr seid gut angekommen. Willkommen!« Stephens Stimme drückte echte Freude aus. Llauron drehte sich lächelnd um und begrüßte den jungen Herzog.
»Eine gute Sonnenwende, mein Sohn«, sagte er und ergriff Stephens Hand. Er warf einen Blick über den Festplatz, dessen helles Gepränge sich gegen den jungfräulichen Schnee unter einem klaren, blauen Himmel abhob. »Es scheint ein wunderbares Fest zu werden, wie immer. Was ist die offizielle Schneeskulptur in diesem Jahr?«
»Sie haben ein maßstabgetreues Modell des Gerichtsgebäudes in Yarim gebaut, Euer Gnaden.«
Llauron nickte anerkennend. »Ein wirklich wunderschönes Gebäude. Ich bin gespannt, wie sie es geschafft haben, den Schnee bei den Minaretten in Form zu halten.«
»Darf ich Euch einen Branntwein anbieten? Graf Andrew Canderre hat ausgezeichneten Nachschub gebracht, unter dem sich ein ganz besonderes Fass befindet.« Stephen hielt ein silbernes Schnapsgläschen hoch. »Ich habe Euch etwas von meinem Vorrat mitgebracht.«
Das Gesicht des Fürbitters erhellte sich, und er nahm den Branntwein dankbar entgegen. »Er sei gesegnet, und du auch, mein Sohn. Es geht nichts über etwas Wärme im tiefsten Winter.«
»Ich sehe, Eure Vertrauten sind auch hier. Sehr gut«, sagte Stephen und winkte Khaddyr zu, als der Heiler hinter den weißen Gästezelten in Sicht kam.
»Ist es möglich, dass auch Gavin hier ist?«
Llauron lachte. »Ja, wirklich, die Planeten müssen bei dieser Sonnenwende alle hintereinander stehen, sodass Gavins Terminplan es ihm erlaubt, hier zu sein. Erstaunlich, nicht wahr?«
»Allerdings! Da ist er, hinter Lark. Und Ilyana, mit Bruder Aldo. Ich bin so froh, dass ihr alle kommen konntet.«
Llauron beugte sich vor und flüsterte Stephen verschwörerisch ins Ohr: »Nun, hier wimmelt es vor Fürbittern. Ich musste alle filidischen Anführer mitbringen, um einen Massenabfall vom Wahren Glauben zu verhindern.«
Tristan Steward reichte seiner Verlobten die Hand und half ihr höflich aus dem Wagen, wobei er sich bemühte, nicht die Beherrschung zu verlieren und sie mit dem Gesicht voran in die tiefste Schneewehe zu stoßen, die er finden konnte.
Ich bin gestorben, und die Unterwelt sieht genauso aus wie diese hier, allerdings bin ich dazu verdammt, die Ewigkeit in der dauernden Gegenwart dieser Seelen verzehrenden Hexe zu verbringen, dachte er müde. Welche verdammenswürdigen, bösen Taten habe ich wohl begangen, dass ich dies verdiene? Er hatte auf der Reise von Bethania zu Stephens Festung eine neue Fähigkeit erlernt: die Fähigkeit des halben Zuhörens. Da Madeleines endloses Plaudern keine Anzeichen des Nachlassens zeigte, nicht einmal während des Ausstiegs, wandte er diese Fähigkeit nun an.
Er warf einen Blick auf Haguefort und die Felder dahinter, die im hellen Licht des Morgens glitzerten. Stephen und die Natur hatten sich wunderbar ergänzt. Leuchtende Eis Juwelen, die der Sturm der vergangenen Nacht übrig gelassen hatte, schmückten die Zweige der Bäume, welche die Wege zur Festung säumten und mit wolligen Wolken aus frischem Schnee überzogen waren. Stephen wiederum hatte Hagueforts Zwillingstürme mit leuchtenden weißen und silbernen Bannern ausgestattet, welche das Wappen seines Hauses tru gen, und die hohen Laternenpfähle, die gewissenhaft im Hof und an den Wegen verteilt waren, mit langen Spiralen aus weißen Bändern umwickelt, die wie stille Maibäume in der steifen Brise flatterten. Es sah bezaubernd aus.