Выбрать главу

»Vater, bitte! Mir ist nicht kalt, und wir werden die Schneesüßigkeiten verpassen.«

»Die Schneesüßigkeiten?«, fragte Tristan lächelnd. »Das bringt Erinnerungen zurück, Navarne.« Madeleine hob eine Augenbraue, und der Herrscher von Roland wandte sich ihr zu. »Du musst etwas davon probieren, Liebes, es ist wunderbar. Die Köche bringen gewaltige Fässer mit Karamellzucker zum Kochen und schütten ihn in Linien in den Schnee, wo er • in der Kälte hart wird; dann tunken sie ihn in Schokolade und Mandelkrem. Es kommt immer zu ziemlichen Tumulten, weil jeder den ersten Schub haben will.«

»In den Schnee?«, fragte Madeleine entsetzt.

»Nicht auf den Boden«, beeilte sich Stephen zu sagen und zupfte an Melisandes Haar, damit das Erstaunen über Madeleines Reaktion aus ihrem Gesicht verschwand. »Es wird sauberer Schnee gesammelt und auf großen Kuchenbrettern ausgebreitet.«

»Es klingt trotzdem ekelhaft«, bekundete Madeleine.

Stephen erhob sich, als Tristan in eine andere Richtung schaute und seufzte.

»Komm mit, Melly. Wenn wir uns beeilen, bekommen wir vielleicht etwas vom ersten Schub ab.« Er versuchte nicht in Tristans Gesicht zu sehen, doch es entging ihm nicht, dass sein Vetter wie ein Mann aussah, der die ganze Welt verloren hatte.

An diesem Fest der längsten Nacht des Jahres brach die Dämmerung früh, aber nicht zu früh herein. Als das Licht vom Himmel schwand, begaben sich die Feiernden und Zecher zum festlichen Mahl, das selbst ein Ereignis war. Rosella stand im Schatten des Kochzeltes und beobachtete die Feiern mit Freude. Melisande und Gwydion hüpften um ihren Vater in der Nähe des Freiluftgrills herum, in dem vier Ochsen über den glühenden Kohlen brieten, und erfüllten die frostige Luft mit fröhlichem Gelächter und freudigen Rufen. So lange sich die Kinder in seiner Obhut befanden, hatte der Herzog Rosella von ihren Pflichten entbunden und ihr vorgeschlagen, sie solle sich auf dem rauschenden Fest umschauen. Sie hatte gehorcht. Verborgen stand sie da und betrachtete das, was ihr Herz am meisten erfreute.

Seit jenem Tag vor vier Jahren, als sie im Alter von noch nicht zwanzig Jahren nach Haguefort geschickt worden war, um für die Kinder des kürzlich verwitweten Herzogs zu sorgen, war Rosella in Stephen verliebt. Im Gegensatz zu Baron MacAlwaen, zu dem ihr Vater sie ursprünglich hatte schicken wollen, war Stephen freundlich und rücksichtsvoll und behandelte sie nicht wie eine Bedienstete, sondern wie ein Mitglied seiner Familie. Zuerst war er zurückhaltend freundlich gewesen; Lydia Navarne, seine junge Frau, war vor wenigen Wochen brutal ermordet worden, und Stephen war lange Wochen wie benommen umhergelaufen und hatte sich um die Angelegenheiten seines Herzogtums und seiner Familie mit der Gründlichkeit eines Menschen gekümmert, dessen Verstand ganz bei der Sache ist, aber dessen Seele sich anderswo befindet.

Allmählich war der Herzog lebendiger geworden, als ob er aus einem langen Schlaf aufwachte. Hauptsächlich spornte ihn die Notwendigkeit an, seinen mutterlosen Kindern ein guter Vater zu sein. Rosellas Zuneigung zu ihm wuchs, als sie beobachtete, wie liebevoll er mit Meslisande und Gwydion umging, die sie wie ihre eigenen Kinder liebte. Ihre Tagträume waren erfüllt von den romantischen, dummen Unmöglichkeiten eines Klassenkampfes, von dem Überwinden des klaffenden Abgrunds zwischen Herr und Dienerin, von einer Brücke zwischen ihrer beider Leben. Die Tatsache, dass Stephen nichts von ihren Gefühlen bemerkte, gab ihr die Freiheit zum Träumen, ohne dabei Schuldgefühle zu entwickeln, die eine andere Wirklichkeit mit sich bringen könnten.

»Frohe Sonnenwende, mein Kind.«

Rosella zuckte zusammen und drückte sich in das flatternde Tuch des Kochzeltes, als sie die tiefe Stimme hörte. Der schwere Geruch von Braten stieg ihr in die Nase zusammen mit einer säuerlichen Andeutung brennenden Fleisches.

»Frohe Sonnenwende, Euer Gnaden.« Das Herz schlug ihr heftig gegen die Rippen. Sie hatte nicht gesehen, wie der religiöse Führer aus den Schatten der Feuergrube getreten war. Es war beinahe so, als wäre er ein Teil der tanzenden Flammen gewesen, bevor er sie angesprochen hatte.

Wegen Stephens engen Beziehungen zu den religiösen Führern beider Glaubensrichtungen, des patriarchalischen Ordens und des Ordens der Filiden, war die Gegenwart heiliger Männer in der Festung nichts Ungewöhnliches. Rosella war als Anhängerin des Patriarchen erzogen worden, fühlte sich aber in der Gesellschaft beider Arten von Geistlichen unwohl. Der heilige Mann lächelte und streckte die Hand aus. Als hätte ihre Hand einen eigenen Willen, spürte sie, wie sich die Innenfläche nach oben drehte und die Finger sich langsam öffneten. Sie konnte den Blick nicht von den funkelnden Augen abwenden, in denen sich die Flammen des Kochfeuers widerspiegelten.

Ein kleiner Beutel aus weichem Stoff fiel auf ihre offene Handfläche.

»Ich vermute, du weißt, was du damit tun sollst, mein Kind.«

Rosella wusste es nicht, aber ihr Mund antwortete für sie.

»Ja, Euer Gnaden.«

Die Augen des heiligen Mannes glänzten rot im Feuerschein. »Gut, gut. Möge dein Winter gesegnet und gesund sein; möge der Frühling dir dasselbe bescheren.«

»Vielen Dank, Euer Gnaden.«

»Rosella?«

Rosella sah hinunter auf Melisande, die sie ungeduldig am Rock zupfte. Sie schaute auf die bratenden Ochsen, während der Herzog von Navarne und sein Sohn Rosella fragend ansahen.

»Komm, Rosella, komm! Der Ochse wird gleich angeschnitten, und Vater hat dich eingeladen, mit uns zu essen!«

Rosella nickte benommen und schaute sich nach der Stelle um, wo der heilige Mann gestanden hatte, aber er war verschwunden.

Die Lagerfeuer knisterten in der Dunkelheit und schickten Ranken aus Rauch himmelwärts. Heisere, trunkene Gesänge und fröhliches Lachen hallten über die frostigen Felder von Haguefort. Der wilde und chaotische Festlärm kratzte wie ein Nagel über Tristans Trommelfell. Er schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück gegen die kalte Wand der dunklen Veranda, auf der er saß, und nahm einen weiteren Schluck aus der besonderen Portweinflasche, die Cedric Canderre ihm nach dem Sanges Wettstreit an jenem Abend zugesteckt hatte.

Früher waren die orgiastischen Laute des Winterfestes Musik in seinen Ohren gewesen. Ein Gefühl schierer Unbeherrschtheit hatte während der Sonnenwende in der Luft gelegen, eine ungestüme, rastlose Erregung, die sein Blut aufgewühlt hatte. Da nun Prudence den Nervenkitzel nicht mehr mit ihm erlebte, war alle Leidenschaft zur bloßen Kakophonie geworden. Er trank den Portwein in großen Schlucken, um den Lärm auszublenden oder ihn wenigstens zu einem dumpfen Röhren herabzudrücken.

Noch stärker versuchte er, die Stimme in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Tristan war es lange Zeit nicht gelungen, dem Flüstern zu entkommen oder denjenigen auszumachen, der die Worte zu ihm gesprochen hatte.

Er erinnerte sich schwach an den ersten Tag, an dem er sie gehört hatte. Es war nach einem schrecklichen Treffen im Sommer gewesen, zu dem er alle orlandischen Geistlichen und Adligen in dem fruchtlosen Versuch eingeladen hatte, sie von der Zusammenlegung ihrer Heere zu überzeugen und an den Bolg Rache zu nehmen, angeblich wegen ihres Angriffs auf seine Wachen, in Wahrheit aber als Vergeltung für Prudences grausamen Tod. Seine Mitherrscher hatten ihn für verrückt gehalten und sich einmütig geweigert, ihn zu unterstützen. Unter ihnen hatte sich sogar sein Vetter Stephen Navarne befunden, der ihm so nahe wie ein Bruder stand.

Es war ihm so vorgekommen, dass nach diesem Treffen jemand versucht hatte, ihn zu trösten. Stephen vielleicht? Nein, dachte er, während er benommen den Kopf schüttelte. Nicht Stephen. Ein älterer Mann mit freundlichen Augen, die an den Rändern ein wenig zu brennen schienen. Ein heiliger Mann, dachte er, aber ob er aus Sepulvarta oder Gwynwald kam, wusste Tristan nicht zu sagen. Er versuchte sich das Bild des Mannes ins Gedächtnis zu rufen, den Raum um die körperlosen Augen auszufüllen, doch sein Geist wollte ihm nicht gehorchen. Es blieb ihm nichts anderes als die Worte, die andauernd wiederholt wurden, sobald er sich in der Stille verlor.