Schließlich könntest du derjenige sein.
Plötzlich war es Tristan kalt. Er erinnerte sich an dasselbe Gefühl, als er die Worte zum ersten Mal gehört hatte an eine Kälte, welche die Wärme in den Augen des heiligen Mannes Lügen gestraft hatte. Er zog seinen Mantel enger um sich, rutschte auf der eisigen Steinbank herum und versuchte, die kalten Beine zu wärmen.
Derjenige wofür?, hatte er gefragt.
Der Eine, der Roland wieder Frieden und Sicherheit bringt. Der Eine, der den Mut hat, das Chaos aufzuhalten, welches in der Adelsstruktur dieses Landes grassiert, und den Thron zu besteigen. Wenn du die Herrschaft über ganz Roland hättest, nicht nur über Bethania, dann würdest du sämtliche Heere kontrollieren, die du heute vergeblich zusammenzubringen versucht hast. Deine Kameraden, die Herzöge, können Nein zum Prinzregenten sagen, doch dem König könnten sie sich nicht widersetzen. Deine Linie ist so würdig wie jede andere, Tristan, und sogar würdiger als die meisten.
Nun brannte Säure in seinem Hals, wie damals; es war der bittere Geschmack der Erniedrigung, der Abweisung. Tristan nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
Ich bin nicht derjenige, den Ihr überzeugen müsst, Euer Gnaden, hatte er mürrisch erwidert.
Falls das Fiasko heute Morgen nicht schon Beweis genug war, dann lasst mich Euch versichern, dass meine Mitregenten die zukünftigen Ereignisse nicht so klar erkennen können wie Ihr.
Die Augen hatten gelächelt. Überlass das ruhig mir. Deine Zeit wird kommen. Sorge nur dafür, dass du bereit bist, wenn es so weit ist. Und noch etwas.
Ja?
Du wirst über das nachdenken, was ich dir gesagt habe, ja?
Tristan erinnerte sich, dass er wie betäubt genickt hatte. Er hatte sein Wort gehalten; die Stimme war endlos in seinem Kopf und in seinen Träumen erklungen, sobald er allein oder in der Stille war.
Dem König können sie sich nicht widersetzen.
Tristan nahm einen weiteren tiefen Schluck und wischte ein paar vergossene Tropfen mit dem groben Ärmel seines Mantels ab.
In der Ferne lachte eine Frau; Tristan schreckte benommen aus seinem trunkenen Tagtraum hoch. Er sah, wie auf der anderen Seite des Hofes ein Liebespaar von Säule zu Säule lief; sie spielten Verstecken, lachten sanft, verrückt, brachten einander in angeheiterter Freude wieder zum Schweigen. Das blonde Haar der Frau leuchtete im Fackelschein kurz auf und verschwand dann in den Schatten.
Wie weichendes Fieber verstummte die Stimme, als Tristan die Gedanken auf seine andere Obsession richtete. Er war bitter enttäuscht gewesen, als Stephen ihm mitgeteilt hatte, dass keiner der eingeladenen Gäste aus den Bolgländern gekommen war. Die einzige Ablenkung von der qualvollen Aussicht darauf, mit Madeleine das ganze Fest verbringen zu müssen, hatte für ihn die Hoffnung geboten, dass Rhapsody auch hier sein würde. Hitze durchpulste ihn, verkrallte sich in seinen Eingeweiden und breitete sich bis zu den schwitzenden Handflächen aus, als er an sie dachte. Er wurde beinahe krank vor Enttäuschung über ihr Fortbleiben.
Wann immer er die Gedanken auf sie richtete, verstummte die Stimme. Es war beinahe so, als hätte die Sängerin als Erste seinen Geist in Besitz genommen, ihm ihren Stempel aufgedrückt und ihn damit als ihr Eigentum gebrandmarkt. Der spätere Bann, mit dem er belegt worden war und der ihn dazu trieb, andauernd die leisen Worte zu hören, war nicht so stark wie sein Verlangen nach Rhapsody.
Langsam erhob sich Tristan von der Steinbank und trat schwankend auf die Veranda. Bald würde die Dämmerung hereinbrechen und mit ihr die frühen Festlichkeiten des zweiten Karnevalstages. Er ließ die leere Flasche auf der Bank zurück und eilte aus der kalten Nachtluft in die rauchige Wärme von Stephens Festung und zu seiner Schlafkammer. Als er ging, umheulte ihn der Wind.
Tief in der Nacht, als alle Feiernden still waren, schlüpften zwei umhüllte Gestalten getrennt voneinander hinaus auf die Felder. Die ältere trug eine Kapuze und wartete am Rande der Schatten, die von den ersterbenden Feuern geworfen wurden. Der andere Mann, der ebenfalls eine Kapuze trug, wurde zu einem schnellen Schritt gezwungen und mit Macht zu dem Treffen gezogen zu einem Treffen zweier heiliger Männer in einer heiligen Nacht zu einem unheiligen Zweck.
Wolken trieben über ihnen dahin und vertieften die Finsternis, in die weder das Mondlicht noch der Feuerschein drangen. Am Rande von Stephen Navarnes Reich warf das Licht ferner Feuer lange Schatten über das verschneite Feld und erhellte die Wälder. Die Augen des ersten Geistlichen, des Wartenden, spiegelten ein ähnliches Licht wider, mit einem Hauch von Rot an den Rändern. Er wartete geduldig, während der andere Mann nach Luft rang.
»Wie ich sehe, haben meine Worte in Euch geklungen. Vielen Dank für dieses Treffen, Euer Gnaden.«
Der andere Mann nickte.
»Bisher habt Ihr nicht verstanden, um was Ihr gebeten werdet. Ihr seid lediglich einem Zwang gefolgt, hmm?«
Das Flüstern des zweiten Mannes war rau. »Ja.«
»Aber jetzt, jetzt versteht Ihr allmählich, nicht wahr, Euer Gnaden? Seid Ihr bereit, Euer Schicksal selbst zu bestimmen? Ich bin so froh, dass Ihr Euch entschieden habt, mein Angebot anzunehmen. Habt Ihr es aus freiem Willen getan? Versteht Ihr, um was ich bitte und was ich Euch dafür biete?«
»Ich glaube, ja, Euer Gnaden.« Die Worte klangen heiser.
»Ich will Euch nicht beleidigen, ich will nur sicherstellen, dass Ihr Euch der Macht klar seid, die auf Euch wartet in dieser Welt und im Nachleben.«
»Ja.« Die Stimme war zu einem kaum hörbaren Flüstern herabgesunken.
Die Erwiderung war ebenfalls nicht mehr als ein Wispern. »Unangezweifelte Autorität. Unverwundbarkeit. Und endloses Leben.«
»Ja.«
»Gut, gut.« In der Dunkelheit glitzerte die kleine Klinge.
Der zweite Mann schluckte schwer und zog den Ärmel seiner Robe hoch. Seine Augen leuchteten so hell wie das Messer.
»Nur ein einziger Tropfen, um den Handel zu besiegeln; dann ist Eure Stellung als Oberhaupt des Ordens gesichert.«
Der zweite Mann nickte. Er zitterte, aber nicht wegen der Kälte. Die dünne, nadelähnliche Klinge durchbohrte rasch die Haut an seinem Unterarm und verursachte dabei keine Schmerzen. Ein dunkelroter Blutstropfen trat hervor, zuerst winzig, dann quoll er zur Größe einer Regenperle auf.
Ein graues Haupt beugte sich über den Arm. Er erbebte, als der erste Mann seine warmen und gierigen Lippen gegen das Fleisch des Unterarms drückte und dann heftig den Blutstropfen aufsaugte. Er verspürte, wie ihn eine Welle durchspülte und ein Feuerblitz durchzuckte, wie bei einem sexuellen Höhepunkt, den die Regeln seines Ordens verboten.
In seiner Magengrube hatte es die ganze Nacht über gebrannt. Die fressende Säure verschwand schließlich auf wundersame Weise und ließ ihn benommen und schwindlig vor Erleichterung zurück. Das Gefühl, das ihm den Magen umgedreht hatte, trat durch den Schädel aus. Nun fühlte er sich erregt und seltsam lebendig. Er erste Mann lächelte warmherzig.
»Willkommen, mein Sohn. Willkommen im wahren Glauben. Sobald wir alle Hindernisse ausgeräumt haben, kannst du tun und lassen, was du willst.«
14
Das Gemetzel begann in dem Augenblick, als die Preise für das Schlittenrennen verliehen wurden.
Die Schlittenrennen waren eines der angesehensten und am heißesten umkämpften Ereignisse des Winterkarnevals und beschränkten sich auf die schiere Kraft und Schnelligkeit der vierköpfigen Mannschaften im Wettstreit um die begehrten Preise, als da waren ein ganzes Fass canderianischen Whiskeys, ein gesalzener und gebratener Ochse, ein gehämmertes Goldmedaillon und ein Jagdrecht in ganz Roland.
Die Mannschaften setzten sich anlässlich dieses Ereignisses meistens aus Familienmitgliedern zusammen und bekamen ihre Trophäen von Stephen persönlich in einer humorvollen Zeremonie voller Glanz und Gloria überreicht, gekrönt von einer großartigen Prozession über den gesamten Festplatz. Die Gewinner saßen dabei auf Ehrenplätzen in ihren großen Schlitten und wurden unter dem triumphierenden Klang eines Marsches und etlicher Fanfarenstöße von den Mitgliedern der Verlierer bis vor die Wettrichtertribüne gezogen, wo sie ihre Preise erhielten.