Jenes alte Blut, das sanft in der Ferne wie ein Hauch von Parfüm auf einem quirligen Markt pulsierte, konnte ihm dabei helfen, den F’dor selbst zu finden.
Achmed schloss die Augen und verdrängte die Landschaft aus seinem Bewusstsein. Er leerte den Kopf von allen bewussten Gedanken und richtete die ganze Aufmerksamkeit auf den Rhythmus seines eigenen Pulses. Wie immer in dieser Phase der Jagd konnte er beinahe die Wachskerzen in dem Kloster riechen, in welchem er aufgewachsen war, und er hörte wieder die Stimme seines Lehrers.
Kind des Blutes, hatte Pater Haiphasion leise mit seiner rauen Stimme gesagt. Bruder aller Menschen, aber verwandt mit niemandem. Der dhrakische Weise war nun schon seit mehr als tausend Jahren tot.
Die Jagd forderte von ihm ein gewaltiges Opfer, sowohl geistig als auch spirituell. Der Macht dieser Worte war es zuzuschreiben, dass es ihm möglich war, sein kirai, die Suchschwingungen, die allen Dhrakiern gegeben waren, auf die Herzschläge von Nicht-F’dor einzustellen, was eine einzigartige Gabe darstellte. Bruder aller Menschen. Während beinahe seines ganzen Lebens war er immer nur als der Bruder bekannt gewesen, ein tödlicher Verwandter jener Opfer, deren Puls für kurze Zeit mit seinem im Einklang geschlagen hatten.
Dein Selbst muss sterben, hatte ihn seine Großmutter gelehrt. Sie, die alte Lehrerin und Wächtern, war erst kürzlich verstorben. Es war aber mehr als sein Selbst. In dem Augenblick, da er seine eigenen Schwingungen unterdrückte, verschwand sogar der Teil von ihm spurlos, den er seine Seele nennen konnte, und wurde von dem fernen, pochenden Rhythmus seines Zieles ersetzt.
Er hatte sich gefragt, was wohl geschehen würde, wenn er einmal nicht der erfolgreiche Pirschjäger wäre, sondern unterliegen würde, während er seinem kirai folgte. Der Ort, an den sich sein Selbst während der Jagd zurückzog, war zweifellos die Leere, ein gewaltiger leerer Raum, das Gegenteil des Lebens. Er vermutete, dass jeder Gedanke daran sein Glück wenden und seinem Opfer die Gelegenheit geben könnte, ihn zu überwältigen und zu töten. Dann würden sich alle Teile seines Selbst sofort auflösen und in jenem leeren Raum zu winzigen Teilchen werden, die auf ewig wie Funken brennen und ihn jeglichen Seins im Nachleben berauben würden.
Das war eine Gefahr, mit der er sich abfinden konnte.
Alle Gedanken wichen zurück und wurden von einem fernen Pochen ersetzt, das mit jedem Atemzug lauter wurde.
Der Puls war für ihn gleichzeitig fremd und vertraut. Es lag eine Ahnung der alten Welt darin, ein Summen, das in den Adern jeder Seele auf serenischem Boden gesteckt hatte. Die tiefe Magie der Insel Serendair hatte einen ganz eigenen Klang und durchdrang das Blut aller, die dort gelebt hatten. Doch das war nur eine winzige Spur in dem Rhythmus, der den ganzen Herzschlag ausmachte.
Als er zum ersten Mal gelernt hatte, auf seine Haut zu lauschen, hatte er das Dröhnen von Trommeln gehört. Zahllose chaotische, kakophone Rhythmen waren unmittelbar auf ihn eingedrungen; sie hatten gedroht, ihn zu überwältigen und wie die Echowellen in einer Schlucht zu überspülen. Hier aber hörte er kaum ein Wispern.
Weil das Blut, das durch das Herz der Dämonenbrut floss, beinahe ausschließlich von dieser Welt war, konnte er dessen Rhythmus nicht erkennen und es nicht ausmachen. Das Blut der neuen Welt umwirbelte das verschwindende Flattern der alten Welt wie Meereswellen, wie ein Sturm aus vertrockneten Blättern die letzten Spuren des Herbstes. Bisweilen vermochte er einige ihrer Merkmale zu er spüren; er jagte ihnen mit seinem Atem nach, schmeckte die Mischung und Würzung der Töne und suchte nach dem tiefen Schattenlaut, hinter dem er her war.
Es war wie die Wärme eines Pulses, der über ihn hereinbrach und der von der unbekannten Mutter des Kindes kommen musste, gefolgt jedoch von einer Eiseskälte, die sein Vater, der Rakshas, hinterlassen hatte, jenes künstliche Wesen, das all diese verfluchte Nachkommenschaft für seinen dämonischen Meister gezeugt hatte. Auch lag etwas Brutales darin, etwas Rotäugiges, Wildes, Grausames. Rhapsody hatte gesagt, der F’dor habe bei der Erschaffung des Rakshas das Blut von Wölfen und anderen Nachtgeschöpfen verwendet. Vielleicht verhielt es sich so.
Mit jedem Augenblick wurde der alte Rhythmus ein wenig lauter und klarer. Achmed öffnete die linke Hand und hielt sie hoch, damit die Windstöße über die Innenfläche tanzen konnten. Jedes neue Atemholen wurde langsamer und tiefer, und jedes Ausatmen abgemessener. Als sein Atem mit dem des in der Ferne schlagenden Herzens zusammenfiel, wandte er alle Aufmerksamkeit seinem eigenen Herzen und dem Druck zu, den es auf die vom Blut durchpulsten Venen und Adern ausübte. Mit reiner Willenskraft verlangsamte er den Schlag, bis er gerade noch ausreichte, um ihn am Leben zu erhalten. Er vertrieb alle streunenden Gedanken aus seinem Kopf und leerte ihn vollkommen bis auf die Farbe Rot. Alles andere verblasste und ließ vor seinem inneren Auge eine Vision von Blut zurück.
Blut wird das Mittel sein, hatte es in der Prophezeiung geheißen.
Kind des Blutes. Bruder aller Menschen, aber verwandt mit niemandem.
Achmed hielt sich vollkommen reglos und still. Er lockerte den Schlag seines eigenen Herzens, damit er mit dem in der Ferne zusammenfiel. Wie beim Fangen eines Schwungrades gelang es ihm zuerst nur bei jedem fünften Herzschlag, dann bei jedem zweiten, bevor völliger Gleichklang herrschte. Er klammerte sich an den winzigen Halt des alten Blutes, folgte ihm durch ferne Adern, jagte seinem Fluss nach, griff nach dem Anschwellen und Verebben, bis er schließlich in den Rhythmus seines Opfers kroch. Die Herzschläge gerieten in Gleichklang.
Doch dann, als die Fährte klar wurde und sich seine Beute unfehlbar mit ihm verbunden hatte, zerschmetterte ein anderer winziger, misstönender Rhythmus den Einklang. Achmed packte sich an die Brust und taumelte zurück, während Schmerzen wie ein Vulkan in ihm explodierten.
Hinter seinem schmerzerfüllten Ächzen hörte er Rhapsodys Keuchen. Sein Körper rollte den felsigen Hang hinunter; die Glieder schlugen gegen einen gefrorenen Sims. Achmed kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit an, sah von Zeit zu Zeit etwas und sank dann in die Dunkelheit dazwischen. Die beiden Herzschläge, die er aufgespürt hatte, rangen mit seinem eigenen; ihm ging die Luft aus. Er biss die Zähne zusammen. Der Himmel schwamm in blauen Kreisen und wurde dann schwarz.
Er spürte, wie Wärme ihn umgab. Der Wind, der ihm in der Nase juckte, war plötzlich süßer geworden. Achmed öffnete die Augen und sah Rhapsodys Gesicht vor den Kreisen schwimmen.
»Gute Götter! Was ist passiert?« Ihre Stimme zitterte seltsam.
Achmed machte eine unbeholfene Handbewegung und rollte sich in Seitenlage zu einem Ball zusammen. Er sog mehrmals sorgfältig und abgemessen die Luft ein. Der kalte Wind stach in seiner brennenden Brust. Er bemerkte beiläufig, dass Rhapsody noch neben ihm war, doch er unterließ es, sie zu berühren. Sie lernt, dachte er und war seltsam zufrieden. Mit Sand zwischen den Zähnen und unter schmerzhaftem Stöhnen zwang er sich, sich hinzuhocken. Sie kauerten schweigend auf dem windigen Hügel oberhalb der zerfallenden Stadt. Er atmete heftig ein und richtete sich dann zitternd auf, wobei er auf Rhapsodys angebotene Unterstützung verzichtete.
»Was ist passiert?« Ihre Stimme war ruhig.
Langsam schüttelte er den Sand aus den Kleidern, legte wieder den Schleier vor und starrte hinunter auf Yarim. Die Stadt hatte sich ein wenig belebt, während er allmählich zu sich gekommen war. Nun tröpfelte menschlicher und tierischer Verkehr durch die ungepflegten Straßen und erfüllte die ferne Luft mit Lärm.
»Hier ist noch jemand«, sagte er.
»Noch ein Kind?«
Achmed nickte langsam. »Noch ein Herzschlag. Noch eine Brut.«
Rhapsody ging zurück zu den Pferden und zog eine der Satteltaschen auf. Sie holte ein in Öltuch gebundenes Notizbuch heraus und trug es zu Achmed auf den Hügelkamm.